Rot wie Schnee
aufgegeben.
Windböen wirbelten Papier und anderen Abfall über den Hof.
Manuel bewegte sich mit größter Vorsicht, hielt sich fern |396| von den hellen Rechtecken, die von den erleuchteten Fenstern herrührten, schlich zu dem Fahrradständer und von dort zu den Mülltonnen beim Personaleingang. Es stank nach vergammeltem Fisch und saurer Milch. Manuel musste sich die Nase zuhalten, als er sich hinter eine der Tonnen hockte.
Aber nach einer Weile hatte er sich an den Gestank gewöhnt und konnte etwas entspannen. Als er sich an die Mauer lehnte, erinnerte ihn das an all die vielen früheren Gelegenheiten, wenn er irgendwo auf Arbeit gewartet hatte.
Plötzlich erlosch das Licht in einem der Rechtecke, und die Beleuchtung über der Tür neben dem »Dakar« ging an. Manuel konnte durch das Fenster im Treppenhaus einen Mann sehen, der die Treppe herunterkam. Er betrat pfeifend den Hof, öffnete das Schloss an einem Fahrrad und fuhr davon.
Das Licht im Treppenhaus ging aus, und Manuels Herzschlag verlangsamte sich wieder.
Er wollte nicht an den Dicken denken, aber dass er keine Gelegenheit bekommen hatte, ihm ordentlich zuzusetzen, verdross ihn. Er überlegte, ob er der Polizei anonym einen Tipp zukommen lassen sollte. Während der Wartezeit im Waldhaus hatte er sich alle möglichen Varianten ausgedacht, sie aber samt und sonders verworfen. Patricio musste schleunigst außer Landes kommen, und er durfte die Flucht des Bruders auf keinen Fall durch irgendwelche unnötigen Manöver gefährden.
Der Dicke war in diesem Moment vielleicht auf der anderen Seite der Tür, nur wenige Meter von ihm entfernt, also ganz nah und doch nicht erreichbar. Denn Manuel hatte beschlossen, nie mehr Gewalt anzuwenden.
Er musste eine ganze Stunde warten, bis sich die Hintertür des »Dakar« öffnete. Dass es Feo war, hörte Manuel an den Flüchen, mit denen der Portugiese den Deckel einer Mülltonne hochhob. Dann schlug Feo den Deckel wieder zu, schloss die Tür hinter sich, und alles war still.
|397| Nach einer weiteren halben Stunde ging die Tür erneut auf. Als Manuel Evas Stimme erkannte, war er wie gelähmt. Sie rief etwas in die Küche, und er meinte, Feos Antwort zu hören.
Die Tür fiel ins Schloss, und Manuel lauschte Evas Schritten auf dem Kies. Er schaute hinter der Mülltonne vor, sie war allein. Langsam stand er auf.
»Eva«, rief er flüsternd.
Sie wollte gerade ihr Fahrradschloss öffnen und erstarrte in der Bewegung.
»Ich bin’s, Manuel.«
Sie drehte sich vorsichtig um. Er merkte, dass sie ihn kaum sehen konnte und trat einen Schritt in den Hof, schaute dabei aber gleichzeitig hoch zu dem erleuchteten Fenster.
»Du?«
Manuel nickte.
»Was machst du hier?«
»Ich will mit dir reden.«
Sie schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Das nahm er als Ermunterung.
»Ich fahre bald nach Hause und wollte mich nur verabschieden.«
»Warum …«, begann sie energisch, aber verstummte dann, als hätte der Wind ihre Stimme verweht. Vielleicht fehlten ihr die richtigen Worte im Englischen.
»Du glaubst, dass ich lüge, aber das ist nicht so«, versicherte Manuel und ging einige Schritte auf sie zu.
»Bleib dort stehen! Wo ist dein Bruder?« Manuel schüttelte den Kopf.
»Um ihn geht es nicht. Es geht um uns. Ich will nicht aus Schweden weggehen, ohne das zu sagen.«
»Was willst du sagen?«
Evas Stimme war heiser. Er verstand kaum, was sie sagte.
»Dass ich wollte, dass ich will … du sollst mein Land besuchen kommen.«
|398| Schnell ging er auf sie zu, zog etwas aus der Tasche und hielt es ihr hin.
»Was ist das?«
»Ein Geschenk.«
Sie nahm den zusammengerollten Strumpf.
»Ich hatte sonst nichts«, sagte Manuel. »Aber der ist sauber.«
Wortlos steckte sie den Strumpf in die Jackentasche.
Manuel hätte gern so viel gesagt, wusste aber nicht, was. Er hatte Angst, dass sie wegrennen und ihn verfluchen würde. Oder laut schreien.
»Weißt du, der hat meine Brüder übers Ohr gehauen. Deshalb habe ich ihn übers Ohr gehauen. Ich wollte, dass er ins Gefängnis kommt, aber das geht jetzt nicht. Ich muss zusehen, dass mein Bruder nach Hause kommt.«
»Er sitzt im Gefängnis«, sagte Eva.
»Nein, er ist ausgebrochen.« Manuel war verwirrt. »Aber ich muss jetzt gehen. Vielleicht kommt Tessie oder ein anderer heraus.«
Eva sah zu Boden.
»Aber wie wollt ihr nach Hause kommen?«
»Mein Bruder fliegt mit meinem Pass und meinem Ticket«, erklärte Manuel. »Dann sehe ich weiter.«
Eva starrte ihn
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