Rot wie Schnee
die Identität in wenigen Tagen feststellbar und Angehörige oder Freunde konnten verhört werden. Dann dürfte ohne Mühe herauszufinden sein, was die Tätowierung dargestellt hatte und vielleicht sogar, wo und von wem sie ausgeführt worden war.
Aber dann entfiel das Motiv, warum sich jemand die Mühe gemacht hatte, die Tätowierung zu entfernen. Außerdem wurde durch das Vorgehen die Aufmerksamkeit doch gerade auf die Tätowierung gelenkt. Vielleicht hätte sie sonst nie so eine Bedeutung bekommen.
Ann Lindell sah auf die Uhr. Bisher war sie an allen Gaststätten vorbeigegangen, weil nichts sie angesprochen hatte. Jetzt auf einmal wurde die Zeit knapp. In der Fußgängerzone kaufte sie sich an einem Stand eine Bockwurst mit Brot, was die Kollegen aus unerfindlichen Gründen einen »Kurt« nannten.
Während sie aß und die Menschen an ihr vorbeiströmten, drängten sich ihr wieder die Überlegungen zu der Tätowierung |74| auf. Sie war mehr und mehr vom symbolischen Charakter des Wegschneidens überzeugt.
Ohne sich weiter aufzuhalten, eilte Lindell zum Polizeipräsidium zurück. Sie hatte sich diesen schnellen Spaziergang inzwischen zur Gewohnheit gemacht. Damit versuchte sie, etwas für die Kondition zu tun. Die sei miserabel, hatte nämlich der Arzt bei der letzten Routineuntersuchung konstatiert.
Aber deshalb verbrachte sie die Mittagspause immer öfter allein. Denn keiner der Kollegen hatte Lust, in Lindells Rhythmus durch die Stadt zu rennen.
Wieder in ihrem Büro, verschwitzt und eben gerade satt, sah sie noch einmal die Berichte durch, die inzwischen über den Ermordeten vorlagen. Wie soll ich ihn fürs Erste nennen?, dachte sie, als sie ans Regal ging und sich einen neuen Block holte. Spontan schrieb sie JACK aufs Deckblatt. Sie schlug die erste Seite auf. Die Blätter waren kariert, und im ersten Moment störte sie das. Aber sie begann sofort, alle ihre Gedanken zur Tätowierung und was sie bedeuten mochte zu notieren. Das war bislang das Einzige, wozu sie etwas schreiben konnte, die Fakten standen schließlich im rechtsmedizinischen Gutachten. Es wurde überhaupt Zeit, dass der Bericht der Spurensicherung eintraf.
So kam eine halbe Seite mit Überlegungen in ihrer Handschrift zusammen, die für alle anderen unleserlich war. Danach fühlte sie sich trotz des mageren Anfangs zufrieden, geradezu optimistisch. Vielleicht lag das an der spätsommerlichen Wärme? Vielleicht war es auch einfach die Freude, weil sie sich so stark fühlte. Die im Frühjahr geplatzte Beziehung zu Charles Morgansson, dem Neuzugang in der Spurensicherung, lag definitiv hinter ihr, und zwar ohne Nachwehen. Ohne Zweifel, ohne bittere Gefühle, es gab nichts Ungeklärtes zwischen ihnen, jedenfalls nicht von ihrer Seite.
|75| Sie hatten sich im letzten Herbst kennengelernt und waren überaus vorsichtig eine Beziehung eingegangen. Charles war ein sehr netter Mensch, das sagte sie denen, die sie fragten, aber für Lindells Geschmack zu sanftmütig und gelassen. Ehe sie miteinander schliefen, vergingen einige Monate, und das war dann auch nicht sonderlich lustvoll gewesen, ja kaum angenehm. Wenn er einmal aktiv wurde – was selten genug der Fall war –, schien er sich jedes Mal entschuldigen zu müssen. Er hatte ganz offenkundig Probleme, das wurde Ann schon sehr bald klar. Sie glaubte eine Weile sogar, er interessiere sich in Wirklichkeit gar nicht für Frauen. Aber dann stellte sich heraus, dass da noch seine Erfahrungen aus der früheren Beziehung in Umeå herumspukten. Etwas war dort wohl ziemlich schiefgegangen. Vielleicht war das ja der eigentliche Grund, warum er nach Uppsala umgezogen war. Er behauptete allerdings, er sei in einen Verkehrsunfall verwickelt gewesen und deshalb weggegangen. Letztlich wollte es Ann Lindell aber auch gar nicht wissen, sie wollte keine Fürsorgerin sein.
Diese kurze Beziehung war nun ein abgeschlossenes Kapitel – und eine Erfahrung, die erstaunlicherweise ihr Selbstvertrauen gestärkt hatte. Görel, ihre Freundin und die zuverlässige und treue Babysitterin Eriks, hatte sie trösten wollen, aber Ann hatte alle Versuche zurückgewiesen.
»Wenn jemand getröstet werden muss, dann wohl Tjalle«, sagte sie, was Görel erst ziemlich grob fand. Aber dann musste sie lachen.
Sie hatte die Geschichte als Beobachterin miterlebt und war innerlich dankbar, dass sie vorüber war.
»Du brauchst keinen Miesepeter«, erklärte sie.
»Genauso sehe ich das auch«, stimmte ihr Ann zu, »ich
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