Rot wie Schnee
holte noch einen Schokoladenkeks.
Eigentlich brauchte sie sich vor einem Brief von Edvard nicht zu fürchten. Das waren die Erinnerungen: Abende mit halb ausgetrunkenen Weinflaschen, Nächte in stickiger Luft und zwischen feuchten Laken, der nächste Morgen, wenn sich der Körper steif anfühlte und das Gefühl der Sinnlosigkeit einen lähmte, Tage im Job, vor dem Fenster nach Osten hin das flache Land und die Kirchturmspitze von Vaksala, die die Richtung wies, in die ihre Gedanken gingen.
All das, alle diese Stunden – das war Edvard. Ein Brief von ihm, so unwahrscheinlich, so ungerecht und unnötig – was konnte der schon Gutes bringen? Noch aus dem unschuldigsten Gruß würde sie Hohn heraushören. Oder eine Entschuldigung? Aber wofür sollte er sich entschuldigen? Sie selbst hatte die Trennung verursacht. Dass er dann auf seiner unerwarteten Thailandreise eine neue Frau getroffen hatte, das hatte sie erraten, aber nie bestätigt bekommen. Das war außerdem lange nach der Trennung gewesen, das konnte sie ihm also nicht zur Last legen. Schließlich war sie von einem anderen Mann schwanger geworden, das war bedeutend schlimmer.
Als ihr einfiel, dass er vielleicht umgezogen war, untersuchte sie den Briefumschlag. Aber nichts gab einen Hinweis auf die Adresse des Absenders.
Warum schickte er einen Brief, wenn er doch hätte anrufen können? War der Inhalt so, dass er es nicht fertigbrachte, ihn durchs Telefon weiterzugeben? War es eine Einladung zu seiner Hochzeit? Aus solchen Anlässen verschickte man doch förmliche Briefe. Nein, so grausam konnte er nicht sein.
Erik hatte den Schokoladenkeks aufgegessen und wollte mehr haben. Ann wischte ihm mit einem Stück Haushaltskrepp Mund und Hände ab.
|82| »Noch ein Stückchen, aber dann ist es gut«, sagte sie und hatte auf einmal ein schlechtes Gewissen. Erik war ihr Leben, ihn liebte sie und nach ihm sehnte sie sich. Was bedeutete schon ein verdammter Brief.
Sie überlegte kurz, ihn wegzuwerfen. Aber der Gedanke war mit so viel Angst verbunden, dass sie ihn sofort aufgab.
Sie schlitzte den Umschlag auf und zog ein DIN-A 4-Blatt heraus.
Hallo Ann!
Ich hoffe, es geht Dir gut. Ich will Dir nur sagen, dass sich Viola die Hüfte gebrochen hat und in der Uniklinik liegt. Es ist im Hühnerstall passiert. Sie liegt in Abteilung 70E, in der Orthopädie. Ich arbeite viel.
Sie freut sich bestimmt über einen Besuch.
Alles Liebe, Edvard
Ann las die wenigen Zeilen noch einmal. Typisch Edvard. Kurze Sätze und eine Mischung aus Hühnerstall und Uniklinik. Nichts Persönliches, nur dass er arbeitete. Als wäre das eine Neuigkeit. Nichts davon, wie es ihm ging, oder was er dachte und fühlte.
Sie las den Brief ein drittes Mal. Vielleicht ging es Viola richtig schlecht? Sie war immerhin über neunzig. So wird es sein, dachte Ann. Sonst hätte er doch nicht geschrieben. Er glaubt, dass sie sterben wird, und weiß, dass ich ihm nie verzeihe, wenn er mir nicht Bescheid gibt. Vielleicht hatte Viola ihn gebeten, ihr zu schreiben? Vielleicht war der Brief ganz allein ihre Idee?
Seit sich Edvard vor Jahren von seiner Familie zurückgezogen hatte, wohnte er in Violas Haus, einem Hof aus dem 19. Jahrhundert auf Gräsö, einer Schäreninsel. Edvard hatte die ganze erste Etage gemietet. Mit der Zeit hatte er sich auf der Insel akklimatisiert, hatte bei einem Bauunternehmer Arbeit |83| gefunden und betrachtete sich inzwischen als Einheimischen. Für Viola war es bequem und sicher, Edvard als Mieter zu haben. Sie hatte keine Erben, und nachdem er dort zwei Jahre gewohnt hatte, beschloss sie, dass Edvard sie einmal beerben sollte.
Anfangs hatte Viola Ann als Bedrohung betrachtet. Denn sie hätte ihn vielleicht dazu verlocken können, von der Insel wegzuziehen. Aber mit der Zeit hatte die alte Frau sie akzeptiert, dem Anschein nach unwillig und schroff, wie es ihre Art war. Sie hoffte vielleicht darauf, dass aus Edvard und Ann ein Paar würde. Das auf Gräsö lebte.
Ann hatte keine Ahnung, was eine gebrochene Hüfte bedeuten mochte. Aber für einen so alten Menschen könnte es der Anfang vom Ende sein. Ob Viola das spürte? Wollte sie deshalb Ann ein letztes Mal treffen?
Süßigkeiten und Saft hatten Erik einigermaßen zur Ruhe gebracht, und er kletterte allein von seinem Stuhl herunter. Ann sah ihm nach, wie er in sein Zimmer verschwand. An sich war er ein pflegeleichtes Kind, und dafür war sie wirklich dankbar.
Selbstverständlich würde sie die alte Frau besuchen.
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