Rot wie Schnee
Englisch.
Manuel hatte erfahren, dass sie ebenfalls erst seit Kurzem im »Dakar« arbeitete. Ihre Art, ihn anzuschauen, verdutzte ihn. Sie sah ihm direkt in die Augen, neugierig und lächelnd. Sie fragte nach Venezuela, wollte wissen, wie das Land aussah, fragte nach der Kleidung, dem Klima und wie das Essen schmeckte. Alles wollte sie wissen, die Fragen schienen kein Ende zu nehmen.
Kurz war er in Versuchung gewesen, ihr die Wahrheit zu |261| sagen, dass er Mexikaner sei. Er wollte sie, den ersten Menschen in Schweden, zu dem er wirklich Kontakt hatte und der ihm so aufrichtig neugierig begegnete, nicht gern anlügen. Aber statt die Wahrheit zu sagen, erschuf er das Land Venezuela aufs Neue, nahm seine Erfahrungen aus den Bergen von Oaxaca und übertrug sie auf Venezuela. Er beschrieb ihr das Leben der Kleinbauern und entdeckte, dass Eva es mochte, wenn er die Details schilderte, wie sie den Kaffee auf dem Dach trockneten und wer morgens das Feuer im Herd anzündete.
Ein schlechtes Gewissen hatte Manuel nicht, denn er glaubte, dass die Menschen in Venezuela und in Mexiko unter ähnlichen Bedingungen lebten. Er begriff, dass die Triebfeder hinter den Fragen der Kellnerin die Sehnsucht nach etwas anderem war, und in ihren intensiven Gesprächen waren sie in ihrem Enthusiasmus über ein entferntes Land vereint, dem in Wirklichkeit zwei Länder entsprachen. Eva brachte ihn zum Reden und weckte in ihm Sehnsucht, und er begann, sich auf die kurzen Begegnungen zu freuen, wenn sie mit schmutzigem Geschirr zu ihm kam.
Einmal hatte er einen Blick ins Restaurant geworfen und einen Schock bekommen. An der Bar saß der Dicke mit einem Glas Bier vor sich. Er war mit dem Barkeeper beschäftigt und hatte Manuel nicht entdeckt.
In der Spülküche flammte in ihm der alte Hass wieder auf, der im Gespräch mit Eva vorübergehend in den Hintergrund getreten war. Als Feo kam, um sich zu erkundigen, wie es ihm ginge, fragte Manuel nach dem Namen des Dicken und wie oft er ins »Dakar« käme.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Feo. »Wir haben mit ihm geredet, und er weiß, dass du angestellt bist.«
»Ist er nett?«
Feo lachte laut.
»Du musst wirklich keine Angst haben«, wiederholte er.
|262| Manuel hatte keine Angst, aber er war sehr unsicher, wie er sich verhalten sollte.
An diesem Abend grübelte er über sein weiteres Vorgehen nach. Er könnte die Drogen, die er in dem Sommerhaus gestohlen hatte, einfach vernichten, sich von Patricio verabschieden und nach Hause fahren. Das wäre ein Ausweg. Es wäre die einfachste Lösung, aber er wusste, wenn er sich so aus dem Staub machte, würde er keine Ruhe mehr finden. Der Gedanke war ihm unerträglich, dass der Bruder eingesperrt war, während die Hintermänner des Drogenschmuggels nie ins Gefängnis kämen. Er wollte etwas tun, damit Patricio es leichter hatte, das hielt er als großer Bruder für seine Pflicht. Aber wie sollte er das anstellen? Vielleicht war es nicht einmal unmöglich, von Slobodan Andersson zehntausend Dollar zu bekommen, wenn er schwieg. Doch das war Manuel nicht genug. Er wollte nicht Slobodan Anderssons Tod, es war mehr als genug, dass er Armas’ Blut an den Händen hatte. Aber er wollte ihn irgendwie bestrafen.
Er träumte jede Nacht davon, wie er den Toten zum Wasser hinunterschleppte, wie das Hemd zerriss und wie plötzlich die Tätowierung zu sehen war.
Quetzalcóatl
vom Arm des Gringo wegzuschneiden, das war das Schlimmste gewesen. Kein weißer Mann durfte ein solches Symbol tragen. So hatte er es damals empfunden, verbittert und verwirrt, wie er gewesen war. Inzwischen bereute er es. Welches Recht hatte er, an einem toten Mann herumzuschnippeln?
Er kümmerte sich um die Bestecke, die Teller und Gläser, spülte sie ab, räumte sie in die Maschine, nahm sie wieder heraus – und empfand bei all dem so etwas wie Freude an der Arbeit. Er tat es nicht, um jemandem zu Willen zu sein, aber die Wärme in der Spülküche und die Bewegungen an sich spornten ihn an, und er bekam gute Laune. Dazu trug auch Feo seinen Teil bei. Sie wechselten immer ein paar Sätze und machten Witze.
|263| Er hörte den Gesprächen der Kollegen untereinander zu, ohne ein Wort zu verstehen, und er sah zu, wie Tessie aus Amiland und die neue Kellnerin die Gerichte einbongten. Das Klappern, Scheppern und Klirren aus der Küche, der Dampf, der aus Töpfen und Pfannen aufstieg. Und die Wolke, die in die Spülküche schwebte, brachte Düfte von Fisch und Knoblauch und
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