Rot
Terrasse der Dachwohnung im sechsten Stockwerk öffnete, strömte die kühle Oktoberluft ins Zimmer. Sie trat ans Geländer und schaute eine Weile hinunter zum Augarten, obwohl auf dem fünfzig Hektar großen Parkgelände nur ein paar Straßenlaternen und Fahrradscheinwerfer zu sehen waren. Dann beugte sie sich vor, stützte sich mit einem Ellbogen auf und hob den Bademantel hoch bis zu den Hüften.
Was für ein Anblick! Er hatte sich umsonst Sorgen gemacht, sie besaß eindeutig die richtige Einstellung. Danilow war so begeistert, dass er schon vor dem Aufstehen eine Erektion bekam. Schnell ging er hinaus auf die Terrasse, den kalten Wind auf seiner Haut spürte er nicht. Er fasste nach ihrem nackten Hintern und wollte gerade in sie eindringen, da drehte sich die Frau um und zog etwas über seinen Kopf. German Danilow hob die Hände an den Hals, spürte ein dünnes Drahtseil und merkte dann, wie die Frau zugriff – eine Hand packte sein Glied, die andere das Seil. Er flog im hohen Bogen über das Geländer und fiel fünf Meter tief, dabei hatte er das Bild der vorgebeugten Frau und des schönsten Siegerpreises vor Augen, dem er fast sein ganzes Leben nachgelaufen war. Danilow starb augenblicklich, als sich das Stahlseil spannte und ihm das Genick brach.
Die Frau band den Bademantel zu, schaute in die Dunkelheit und lauschte. Auf den Balkonen der Wohnungen darunter war nichts zu hören, niemand hatte Danilows Sturz gesehen. Das Seil war so bemessen, dass es genau die richtige Länge hatte: Die Leiche schaukelte hinter dem weißen Plastikgeländer des Balkons der darunter liegenden Wohnung. Ihr blieb noch genug Zeit, auf Danilows Computer eine kurze Selbstmordnachricht einzutippen und in der Wohnung zweckdienliche Beweise zu hinterlassen.
22
Samstag, 8. Oktober
Kati Soisalo stand auf dem Aurinkolahdenaukio und hauchte in ihre klammen Finger, Leo Kara fröstelte, die Temperatur lag nur knapp über null Grad Celsius. Es war kurz vor neun Uhr morgens, der Strom der Einwohner Vuosaaris, die in ihren Autos zur Arbeit fuhren, versiegte allmählich. Sie beobachteten den Ausgang der Tiefgarage von Jose Sinkos Haus schon seit fast einer Stunde. Kati wollte nicht in ihrem Smart sitzen, der war zu auffällig, und Sinko hatte garantiert Informationen über sie beide eingeholt. Ein dünner Dunstschleier schwebte auf dem offenen Meer vor Vuosaari, die Luft war feucht.
Kara hatte nur ein paar Stunden geschlafen, er war müde und fror, aber er fühlte sich seltsam ruhig und gelassen. Seine Gedanken kreisten um Kati, obwohl sie kaum einen Meter entfernt neben ihm stand. Das erste Mal seit den Ereignissen im Oktober 1989 ging ihm jemand einfach nicht aus dem Kopf.
»Hast du das Nummernschild gesehen?«, fragte Kara, als ein stahlgrauer Ford Mondeo aus der Garage herausfuhr.
»Das war Sinkos Wagen.« Kati Soisalo wartete, bis der Ford auf der Aurinkolahden puistotie verschwunden war, und rannte dann los. Sie überquerte den Platz, blieb vor der Haustür des Eingangs A stehen, überlegte kurz und drückte dann den Knopf der Wechselsprechanlage. Keine Antwort. Am liebsten hätte sie noch einmal geklingelt, aber sie wollte Virpi Vasama nicht verärgern, möglicherweise versuchte die gerade ihr Kind zum Einschlafen zu bringen.
Endlich hörte man im Lautsprecher ein Knacken und ein müdes »Hallo«.
»Hier Kati Soisalo, wir haben uns gestern Abend gesehen. Ich wollte noch über die …«
»Jose ist schon weg in die Firma. Von seiner Arbeit weiß ich nichts.« Virpi Vasamas Stimme wurde fast vom Weinen des Babys übertönt.
»Mein Kind ist verschwunden. Ich brauche Hilfe.« In Kati Soisalos Stimme schwang jetzt Angst mit.
»Jose wird wütend, wenn ich mit euch rede.«
»Dein Mann erfährt davon nichts, das verspreche ich. Ich bin nicht hinter ihm her, ich will nur meine Tochter finden.«
In der Leitung herrschte wieder Stille. Mit jeder Sekunde, die verging, wurde Kati Soisalo nervöser, sie zog an der Tür – verschlossen. Dann hörte man ein Surren, das Schloss knackte, und sie riss die Tür auf.
Kara versuchte sie zu beruhigen: »Bewahre jetzt einen kühlen Kopf.«
Die Tür in der zweiten Etage stand offen. Virpi Vasama fuhr den Kinderwagen im Flur hin und her und sang leise ein Wiegenlied. Das Weinen hatte aufgehört. Dann drehte sie den Wagen, schob ihn auf den Balkon und schloss die Tür.
»Hat Jose denn nicht gestern schon alles erzählt, was wir von der Slowenien-Fahrt wissen«, sagte Virpi Vasama. Sie bat die
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