Rot
nicht aufgefordert hatte, in das Safehouse zurückzukehren. Natürlich wurde er beschattet. Das war aber überflüssig, er hatte nicht im Geringsten die Absicht, einen Fluchtversuch zu unternehmen, es gab auf der ganzen Welt keinen einzigen Ort, wo man ihn nicht fände. Sein Vorhaben und dessen mögliche Folgen sorgten auch bei ihm selbst für Verwirrung. Das waren höchstwahrscheinlich seine letzten Stunden in London, vielleicht überhaupt seine letzten Augenblicke.
Unfreiwillig hörte Grover mit, wie am Nachbartisch über die Zerstörung der amerikanischen Satelliten spekuliert wurde. Ein Kaugummi kauender metrosexueller junger Mann vermutete, dass die Chinesen ihre Waffen ausprobiert hatten, seine Freundin hingegen, die wie eine Japanerin aussah, glaubte an die offizielle Erklärung für die Katastrophen.
Plötzlich signalisierte sein Handy den Eingang einer Nachricht.
Der gleiche Ablauf, Salusbury Pub. Kannst du sofort kommen? Grover las Golowkins SMS, stand auf und ging in Richtung Queen’s Park. Dabei tippte er seine Antwort – Bin in einer halben Stunde dort – und hastete dann im Laufschritt los.
Siebenundzwanzig Minuten später betrat er das gepflegte und gedämpft beleuchtete Pub und entdeckte sofort denselben »Schatten«, die Frau mittleren Alters, die ihn schon beim ersten Mal im Auge behalten hatte.
Es lief exakt nach demselben Muster ab wie ein paar Stunden zuvor. Er setzte sich an den Laptop, der auf einem Ecktisch bereitstand, und klappte ihn auf. Diesmal erwartete ihn Golowkins erste Nachricht schon auf dem Display:
Grover fluchte.
Golowkins Antwort ließ so lange auf sich warten, dass Grover schon fürchtete, alles verdorben zu haben.
schrieb Grover.
Grover schlug die Zeitung auf und erblickte einen etwa zwei Zentimeter hohen Stoß Unterlagen, die er rasch durchblätterte – Qualitätsware. Er zögerte ein oder zwei Sekunden und tippte dann seine Enthüllung.
Clive Grovers Gesicht glühte. Würde das Golowkin reichen?
Schlagartig verschwanden Golowkins Antwort und die ganze Nachrichtenkette vom Display des Computers. Grover fühlte sich ausgehöhlt und leer, er war nichts als ein unbedeutendes Rädchenin einem gewaltigen Getriebe. Die Welt der Nachrichtendienste und der Aufklärung war im Laufe der letzten zehn Jahre so angeschwollen, dass niemand mehr erfassen konnte, wo ihre Grenzen lagen. Sie saugte wie ein schwarzes Loch Menschen und staatliche Gelder auf. Allein in den USA arbeiteten im Bereich der inneren Sicherheit eintausenddreihundert staatliche Aufklärungsdienste und etwa zweitausend private Unternehmen, insgesamt mindestens zwei Millionen Menschen. Es ließ sich unmöglich schätzen, wie viel eine solche Maschinerie alles in allem kostete. Jährlich wurden zehntausende Aufklärungsberichte veröffentlicht, und die Nationale Sicherheitsbehörde der USA fing täglich 1,7 Milliarden Telefongespräche, E-Mails und andere Nachrichten ab und speicherte sie.
Doch das war nun nicht mehr seine Sorge.
* * *
Gegen zehn Uhr abends stieg Betha Gilmartin vor ihrem edwardianischen Haus im Londoner Stadtteil Putney aus ihrem Dienstwagen, einem Jaguar XJ. »Danke Joe. Ich fahre morgen früh wieder mit der Metro zur Arbeit, aber ich rufe dich an, wenn sich etwas ändert. Einen schönen Abend noch«, sagte sie zu ihrem Chauffeur. In der Regel benutzte sie die Metro für den Weg zur Arbeit und zurück, denn so brauchte sie nur die Hälfte der Zeit, doch ihr Arbeitstag hatte sich diesmal noch länger als sonst hingezogen, und sie fühlte sich todmüde. Es war nicht so einfach, wenn man direkt aus dem Genesungsurlaub mitten in den hektischen Rhythmus des SIS hinein katapultiert wurde.
Als sie im Flur ihre Schuhe auszog, klirrte etwas.
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