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Rot

Rot

Titel: Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taavi Soininvaara
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Mit gebrochenem Genick. Kara, das Klügste, was du jetzt tun kannst, wäre Finnland zu verlassen.«
    * * *
    Im Helsinkier Stadtteil Katajanokka schien die Herbstsonne. Jukka Ukkola stieg auf der Luotsikatu aus seinem Audi und warf einen Blick auf die glänzenden vergoldeten Kuppeln der zweihundert Meter entfernten Uspenskikathedrale. Er nahm den Blumenstrauß und das alte, abgegriffene Fotoalbum vom Rücksitz undging ins Leena-Heim, ein Pflegeheim für Demenzkranke. Seine Mutter hatte Geburtstag.
    Ukkola spürte im Foyer den Geruch alter Menschen und alter Möbel und seufzte tief. Er hielt Ausschau nach einer Schwester, die er kannte und fragen wollte, wie es seiner Mutter ging, aber es war niemand zu sehen, also ging er zur Station »Stern«.
    Die Tür zu Mutters Zimmer war offen. Ukkola blieb auf der Schwelle stehen und betrachtete die alte Frau, die auf dem Bett saß, zitternd, als würde sie frieren, und irgendetwas murmelnd, was er nicht verstand. Niemand anders kam zu Mutter, wenn er daran dachte, fielen ihm diese Besuche etwas leichter. Er atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Alzheimer-Patienten spürten instinktiv sehr schnell jede Art von Aufregung, die dann auf sie übergriff. Das wollte Ukkola vermeiden. Bei seinen Besuchen in den letzten Jahren hatte er vielerlei Gefühlsausbrüche miterleben müssen, auch aggressive.
    Er setzte sich auf die Tagesdecke aus Spitze, legte die Arme um seine Mutter und zog sie an sich. Die Schwestern meinten, dass sich Alzheimer-Patienten wie Kleinkinder nach Sicherheit und Wärme sehnten, körperliche Nähe besänftigte sie, linderte die innere Unruhe. Die Rollen waren nun eben vertauscht. Ukkola versuchte sich vorzustellen, was Mutter fühlen mochte, die arme Frau begriff nichts mehr vom Lauf der Welt.
    Sie schien ruhiger zu werden, das Zittern und Murmeln hörte auf. Ukkola zog aus seiner Brusttasche eine Tafel Schokolade hervor, öffnete sie und brach ein Stück ab. »Deine Lieblingsschokolade, Zartbitter. Wenn du richtig isst, geht es dir viel besser. Und alles Gute, Mutter, du hast heute Geburtstag.«
    »Alles Gute, alles Gute …«, sang sie leise und sah dabei zufrieden aus.
    Als nächstes war der Blumenstrauß an der Reihe. Ukkola hielt sich strikt an seine Routinehandlungen; die mochte Mutter, das sorgte für Sicherheit. Er wickelte den Strauß aus, entfernte die Folieund stellte die weißen Rosen in eine Vase. »Eine Überraschung habe ich auch für dich. Ich habe eines deiner Fotoalben mitgebracht, das von unserem Urlaub in Yyteri, wo wir mit der ganzen Familie am Meer auf einer Sandbank liegen. Weißt du noch?«, fragte Ukkola, obwohl ihm sehr wohl bewusst war, dass seine Mutter ihn nicht einmal mehr erkannte. Das fortgeschrittene Stadium der Alzheimerkrankheit war grausam, Mutter wurde jetzt in Windeln gepackt, sie musste gefüttert werden. In gewisser Weise war es ein Trost, dass sie selbst ihren Zustand nicht mehr mitbekam.
    Sie schaute sich konzentriert die Fotos an. Vielleicht erkannte sie Vater, immerhin hatten sie dreißig Jahre zusammengelebt und waren nach normalen Maßstäben wohl auch ziemlich glücklich miteinander gewesen.
    Ukkola betrachtete die Fotos seines Vaters, der damals vierzig war und fit aussah. Vater trug ihn im Huckepack am Sandstrand, wischte ihm den mit Eis verschmierten Mund ab … Vielleicht hätte er irgendwann versuchen sollen, diesen Mann richtig kennenzulernen. Vielleicht hätte er dann verstanden, warum Vater es nicht weiter als bis zum Hauptwachtmeister gebracht hatte. Oder warum der Alte sich eine Woche vor seiner Abiturfeier aufgehängt hatte.
    Mutter und Sohn saßen nebeneinander, an der Wand tickte dieselbe Uhr wie früher bei ihnen zu Hause, und Ukkola kam jenem Gefühl ganz nahe, das er nicht benennen konnte und schon vor Jahrzehnten verloren hatte.
    Schließlich küsste er seine Mutter auf die Stirn, lächelte und schaute ihr in die Augen. »Einen schönen Geburtstag wünsche ich dir.« Da war es wieder, das kaum merkliche Zucken ihrer Lippen und der Blick. Er glaubte ganz sicher, dass Mutter wusste oder zumindest spürte, wer er war, obwohl der Arzt etwas anderes behauptete.
    Ihm war selbst nicht klar, warum er zu Besuch hierherkam, vermutlichdeshalb, weil Mutter außer ihm niemanden hatte. Und weil ihn sein schlechtes Gewissen plagte. Er hatte Vater an jenem Tag, nur ein paar Stunden vor dessen Selbstmord, bis zur Weißglut gereizt und war ausfällig geworden. Mutter hatte ihren Streit gehört. Vielleicht

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