Rot
wäre das Schlimmste nicht geschehen, wenn er den Mund gehalten hätte.
Wenig später fuhr Ukkola mit seinem Audi in Richtung Pitäjänmäki und beschäftigte sich nun wieder mit dem Kabinett. Eeva Vanhalas Worte am Telefon gingen ihm durch den Kopf: Oder hast du dir etwa keine Gedanken gemacht, warum du jetzt das einzige Verbindungsglied zwischen dem Kabinett und der Beschaffung von Finanzmitteln bist? Du, ein Mann, dessen Prozess bevorsteht?
Auf die Idee war er nicht gekommen, das ließ sich nicht bestreiten. Könnte es sein, dass man im Begriff war, ihm die ganze Verantwortung für die Verbrechen des Kabinetts aufzuladen? Wäre er der Vorsitzende, würde er es doch genauso machen: Alle belastenden Beweise einem geeigneten Sündenbock unterschieben, den Behörden einen Kopf auf dem Silbertablett servieren und damit zugleich sicherstellen, dass die anderen Kabinettsmitglieder ungestört weiterleben könnten. Das Adrenalin schoss ihm ins Blut und ließ den Puls und zugleich die Ziffern auf dem Tachometer in die Höhe schnellen. In Tullinpuomi fuhr er mit achtzig bei Rot über eine Kreuzung und wünschte sich fast, dass seine Glanzleistung von einer Überwachungskamera aufgezeichnet wurde.
Vor seinem Haus bremste er so abrupt, dass der Kies durch die Gegend schwirrte, und ging sofort in sein Arbeitszimmer. Die Polizei ermittelte schon gegen ihn wegen der Beteiligung an Drogenschmuggel und Menschenhandel, und letzte Woche hatte der Vorsitzende ihm die Verantwortung für die illegalen ausländischen Arbeitskräfte übertragen und dazu etliche Dokumente ausgehändigt. Er blätterte sie so heftig durch, dass Seiten einrissen – sie enthielten keinen einzigen Namen eines Finnen. Wenn die Polizei diese Unterlagen bei ihm fände, hätte sie einen Alleintäter wie ausdem Lehrbuch ermittelt. Er könnte nicht beweisen, dass irgendein anderes Kabinettsmitglied vom Einsatz der Sklavenarbeiter gewusst hatte.
Das Handy vibrierte in seiner Tasche, er meldete sich ungehalten.
»Ich sollte mich melden, wenn ich etwas über die Ermittlungen gegen dich erfahre«, sagte Kriminalinspektor Markus Virta von der KRP. »Die stellvertretende Generalsstaatsanwältin hat jetzt entschieden, weswegen man dich anklagen wird.«
»Ach wirklich.« Ukkola bemühte sich um einen gleichgültigen Tonfall.
»Schwerer Menschenhandel und schwere Drogenverbrechen. Sie fordert über sechs Jahre ohne Bewährung.«
Ukkola brach das Gespräch ab und erinnerte sich daran, wie Lee Harvey Oswald, der des Mordes an John F. Kennedy verdächtigt wurde, zu den Reportern sagte: I’m just a patsy . Ich bin das Opfer einer Inszenierung, der Sündenbock. Jetzt musste er sowohl die Unterlagen des Vorsitzenden als auch die Kopien von Vanhalas Dokumenten loswerden.
* * *
Jiang Ximing saß allein in der Baracke am Rand der Kiesgrube von Haimoo und wartete. Die Schicht an diesem Sonnabend war vorbei, die anderen befanden sich auf dem Weg nach Helsinki zu einer Vorstellung des Chinesischen Staatszirkus. Wenn sie in ihrer Freizeit die Baracken überhaupt verließen, dann meist gemeinsam, sie gingen zusammen einkaufen, ins Bad oder in die Stadt. Aber das kam selten vor. In der Regel waren sie samstags so erschöpft, dass sie es nur bis zum nahegelegenen Laden schafften. Heute hatte er so getan, als ginge es ihm nicht gut. Nur mit Mühe war es ihm gelungen, die anderen davon zu überzeugen, dass seinetwegen niemand dazubleiben brauchte.
Jiang streifte sich den Pullover über, denn in der Baracke zog es ständig, obwohl alle Heizkörper voll aufgedreht waren. Wie sollten sie dann den Winter hier überstehen? Chef Jone meinte, die Temperatur könnte auf unter zwanzig Grad minus sinken. Er hatte keine Lust, das Fenster zu öffnen, obwohl es in der Bude stank. Gleichgültig schaute er sich um: zehn schmale Betten, eins neben dem anderen, in der Mitte ein winziger Tisch, ein Wasserkocher, ein kleiner Herd und ein Radio. Die Dusche befand sich in der Baracke von Chef Jone und war an den Wochenenden abgeschlossen.
Zwei Tage zuvor hatte Jiang von seiner Frau den Namen eines chinesischen Menschenrechtsaktivisten erfahren, der in Helsinki wohnte: Gao, eigentlich noch ein ganz junger Bursche, arbeitete schon länger in Finnland in verschiedenen Restaurants. Sie hatten bereits zweimal am Telefon miteinander geredet. Gao konnte ihn verstehen und wusste, was man ihm angetan, wie man ihn betrogen und ausgenutzt hatte. Der junge Mann war seit Jahren in Finnland, er hatte selbst noch
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