Rot
Mensch. Man hörte das Rauschen des Verkehrs auf der Sterngasse. Er stürmte los zum Ausgang, hielt aber inne, weil ein Automotor aufheulte. Als er sich umwandte, erblickte er den Chrysler zwanzig Meter vor sich, der Wagen beschleunigte. Plötzlich packte ihn eine Hand an der Schulter, und er spürte einen stechenden Schmerz im Genick. Kara drehte den Kopf, sah den Mann mit Hut und stürzte zu Boden. In seinem seitlichen Kopfmuskel steckte eine Kanüle.
Dann begann eine siebenstündige Fahrt nach Liechtenstein.
* * *
Kati Soisalo schnaufte wie ein Stier, ihr Atem rasselte und der Puls raste mit etwa hundertsechzig. Der Schweiß brannte in den Augen und die Fußgänger beobachteten sie schon, als sie vor dem Hotel Ramada auf der Weserstraße in Frankfurt stehen blieb. Sie war auf der Uferstraße am Main in Richtung Osten gelaufen, bis ein Industriegebiet die Landschaft verschandelte, dann hatte sie den Fluss auf der Flößerbrücke überquert, war am Südufer bis zur Friedensbrücke und anschließend am Nordufer zurück zu ihrem Hotel gelaufen. Joggen oder Gehen, überhaupt frische Luft wirkte wie eine Droge auf das Gehirn.
Sie berührte die Narbe an ihrem Kopf. Das war seit zwei Monaten ihr erster Lauf in voller Länge. Sie hätte es ruhiger angehen sollen. Um sich zu vergewissern, dass die Poulsens nicht angerufen hatten, holte sie das Handy aus der Tasche der Laufhose, die sie am Vormittag bei Escada gekauft hatte. Es war kurz vor drei Uhr nachmittags. Sie fürchtete, dass sie bei ihrem Treffen mit Helena Poulsen am Vortag zu nachgiebig gewesen war. Verdammt, warum hatte sie gesagt, sie wolle bei Vilmas Übergabe nicht zur Eile drängen? Sie hatte doch solche Sehnsucht nach ihrer Tochter, dass es wehtat. Wie lange musste sie noch warten?
Nach der Dusche ließ sie sich in ihrem Hotelzimmer aufs Bett fallen und öffnete eine Flasche Wasser. Sie fühlte sich ausgezeichnet, alles in ihr hatte nun seinen richtigen Platz gefunden, die Probleme waren auf normale Ausmaße geschrumpft. Das Wichtigste war ihr gelungen, sie hatte Vilma gefunden. Alles andere war mehr oder weniger belanglos und lediglich eine Frage der Feineinstellung. Sie hielt es für selbstverständlich, erst dann wieder mit der Arbeit zu beginnen, wenn Vilma sich zu Hause eingelebt und von ihren schrecklichen Erfahrungen erholt hatte, egal, wie lange das dauern würde, ein halbes oder ein ganzes Jahr, zwei … Geld hatte sie genug.
Nicht einmal der Gedanke an den von Ukkola inszenierten Prozess konnte ihr die Stimmung verderben. Da sie nicht vorbestraftwar, würde sie auf jeden Fall mit einer Bewährungsstrafe von höchstens anderthalb oder zwei Jahren davonkommen. Und sie brauchte auch keine Angst mehr zu haben, dass Ukkola das Urteil ausnutzte und einen neuen Streit um das Sorgerecht für Vilma vom Zaun brach. Es war ein himmlisches Gefühl, zu wissen, dass Jukka Ukkola nicht Vilmas Vater war. Von jetzt an hatte dieser Psychopath nichts mehr in ihrem und Vilmas Leben zu suchen, überhaupt nichts. Sobald sie nach Finnland zurückgekehrt war, würde sie Klage einreichen, damit Ukkolas Vaterschaft aufgehoben wurde.
Ihr Handy auf dem Nachttisch klingelte und sie griff danach wie ein Schlangenbändiger.
»Ich bin in der Kanzlei von Dr. Harald Weber in der Westendstraße 41«, sagte Helena Poulsen mit ruhiger Stimme. »Ich habe unsere Situation mit meinem Anwalt besprochen, und wir möchten dich jetzt treffen. Wie schnell kannst du hier sein?«
Viele Fragen schwirrten Kati Soisalo durch den Kopf. Hatten die Poulsens doch die Absicht, einen Streit um Vilma anzufangen, dann müsste sie auch einen Juristen einschalten … »Ich bin in einer halben Stunde da«, antwortete sie und stürzte ins Bad.
Vierundzwanzig Minuten später stand Kati Soisalo im Foyer einer Frankfurter Anwaltskanzlei und bemerkte im Spiegel, dass ihr Gesicht vom Joggen immer noch gerötet war, genau wie die Narbe, die vom kurzen Haar nicht richtig verdeckt wurde. Ihr ungeschminktes Gesicht und das enge Hemd sorgten dafür, dass sie einen strengen, harten Eindruck machte. So möchte ich nicht vor Gericht auftreten, dachte sie. Zumindest nicht als Angeklagte.
Die gestresste Sekretärin hängte Kati Soisalos Mantel an die Garderobe und führte sie in das Besprechungszimmer, wo Helena Poulsen neben einem rundlichen Mann mit großen Augen saß, der sympathisch wirkte. Sie gab Dr. jur. Harald Weber die Hand und nahm Platz. Weber schlug vor, Englisch zu sprechen, und niemand hatte etwas
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