Rot
fuhr man mindestens fünf Minuten. Anders Aasen stellte sich erstmal auf die Hinterbeine, als ihm klar wurde, was für eine Arbeit da auf ihn zukam, wenn er die Dokumente alle einscannen musste. Doch als Kara andeutete, dass der Fall bei den Medien großes Interesse finden würde, war Aasen wieder voller Eifer bei der Sache. Kara schämte sich fast.
Es war schon halb zwölf, deshalb fuhr Kara mit der Metro weiter bis zur Station Stephansplatz, Autos kamen auf den Straßen im Zentrum innerhalb der alten Stadtmauer zu allen Tageszeiten nur im Schritttempo voran. Vor der Domkirche St. Stephan spazierten auch an kühlen Werktagen im Oktober scharenweise Touristen umher, sicher wollte der Freund seines Vaters ihn deshalb gerade hier treffen.
Kara ging zu der riesigen Pforte, dem gewaltigen Haupteingang der mittelalterlichen gotischen Kathedrale, und steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans. Er hatte keine Ahnung, auf wen er wartete. Ich habe Kontakt zu einem Mann bekommen, der dir helfen kann , hatte Vater geschrieben. Das war alles, was er wusste. Es waren noch drei Minuten bis Mittag.
»Leo Kara?«, fragte jemand, der sich aus einer Gruppe gelöst hatte und vor ihm stehen blieb. Der kleine, graubärtige Mann trugeine Brille mit Metallgestell und runden Gläsern und einen schmalkrempigen Hut aus Wollstoff. Kara war in seinem Leben schon genug Wissenschaftlern begegnet und erkannte deshalb, dass es sich um einen Kollegen seines Vaters handelte. Der Mann mit dem Hut sah so aus, als hätte er in seinem Leben keinen einzigen Tag körperlich gearbeitet und als wollte er lächeln, was er aber unter diesen Umständen schließlich doch für unpassend hielt. Kara reichte ihm die Hand.
»Mein Auto ist ganz in der Nähe, in der Tiefgarage am Hohen Markt«, sagte der Mann, ohne sich vorzustellen und ging los.
Kara lief ihm mit großen Schritten hinterher, bis er auf gleicher Höhe mit ihm war. »Wohin gehen wir? Hast du meinen Vater getroffen?«
Jetzt traute sich der Mann mit dem Hut zu lächeln. »Ich treffe ihn fast täglich«, antwortete er, schaute auf seine Armbanduhr und beschleunigte das Tempo. »Wir haben nur ein paar Stunden Zeit, und du musst einen … noch einen Kollegen deines Vaters sehen. Er wagt es nicht, sich auf öffentlichen Plätzen zu zeigen, wir müssen die Stadt verlassen.«
Ein paar Minuten später stiegen sie die Treppe hinunter in die erste unterirdische Etage der Tiefgarage Hoher Markt. Der Mann bezahlte die Parkgebühr und schaute sich dann suchend um, bis er seinen Wagen geortet hatte.
Kara wunderte sich, dass die Garage mitten im Zentrum so leer war, man hörte weder die Geräusche von Autos noch Stimmen, nur seine Schritte und die des Mannes mit dem Hut. An der Tür zum Treppenhaus stand immerhin ein breitschultriger Mann, an der anderen Tür auch …
Mitten in der Halle blieb Kara stehen, im selben Moment, als der Mann mit Hut auf einen Knopf an seinem Schlüsselbund drückte und die Blinklichter des Chrysler Voyager aufleuchteten. Kara fielen Bethas Worte ein: Du wirst doch wohl nicht so blöd sein, eine derartige Nachricht ernst zu nehmen? Woher willst duwissen, wer sie geschickt hat? Hast du tatsächlich vor, in die Falle zu laufen …
Kara rannte los, als die Schiebetür des Chrysler aufging und zwei groß gewachsene Kerle auf den Asphalt sprangen. Die Männer an den Türen zum Treppenhaus wandten sich ihm zu, da sie seine Schritte hörten – er hatte also mindestens fünf Verfolger. Kara erreichte die Fahrspur in der Mitte der Halle und sah die Rampe, die nach oben führte, und zwei Männer im Laufschritt, die ihm den Weg zum Ausgang versperren wollten. Ein kurzer Blick zu den Türen: Auch dort standen immer noch Wächter.
Er blieb stehen, machte kehrt und sprintete zu der Rampe, die nach unten führte. Kara rannte, was seine Beine hergaben, und raste auch im zweiten unterirdischen Stockwerk weiter. In der dritten Etage zögerte er, Treppe oder Aufzug? Er musste das Erdgeschoss auf Straßenhöhe erreichen, bevor seine Verfolger alle Ausgänge besetzt hatten. Hastig betrat er den nächstgelegenen Aufzug und hämmerte keuchend auf den Knopf, bis sich die Tür schloss. Dann stützte er die Hände auf die Knie und atmete gierig ein, sein Herz dröhnte, er hatte einen gallebitteren Geschmack im Mund und ließ seiner Wut freien Lauf.
Kara ballte die Fäuste, bevor der Fahrstuhl anhielt. Die Metalltüren glitten auf und … er schaute in die leere Parkhalle – weit und breit kein
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