Rot
abtasteten, und vor seinem geistigen Auge sehen, wie sie ihn eine Handbreit von seinem Gesicht entfernt anbrüllten und das Maul dabei so weit aufrissen, dass die flatternden Mandeln zu erkennen waren und Speichelspritzer auf ihn herabregneten. Schon allein der Gedanke widerte ihn an.
Er war ein geachteter Wissenschaftler gewesen, Direktor im Surrey Space Centre, Doktor der Weltraumrobotik. Doch dann hatte sein beschränkter Nachbar, ein Innenarchitekt, der Polizei weitergetratscht, er misshandele seine Frau und deren Kinder. Misshandeln! Lächerlich. Das hatte man davon, wenn man in eine Gegend zog, deren Bewohner keine Ahnung hatten, was Disziplin bedeutete. Jeder, der in den sechziger Jahren seine Kindheit, so wie er, in einer privaten Internatsschule verbracht hatte, wusste,dass Jungen nur im Takt der Schläge mit dem Riemen oder Stock zu Männern wurden.
Natürlich interessierte es Beckley, was passiert war; warum hatte man sein Urteil plötzlich aufgehoben, obwohl die Behandlung des Falles auch in den Berufungsinstanzen längst abgeschlossen war? Der Gefängnisdirektor hatte nur gesagt, es sei so entschieden worden.
Er holte den zerknitterten Zettel aus der Hosentasche, auf dem in Großbuchstaben geschrieben stand: Porchester Spa Bad 10.10. 15:00. Der Handschrift nach sah das so aus, als hätte es ein Kind gekritzelt, obwohl der Text keine Schreibfehler aufwies. Der Durchschnittshäftling von Belmarsh war der lebendige Beweis für das Versagen des öffentlichen Schulsystems. Oder hatte einer der Wächter den Zettel in seine Zelle gesteckt?
Das Taxi bog von der Porchester Road in den Queensway ein und hielt vor dem Bad an. Beckley drückte dem Fahrer einen Fünfzig-Pfund-Schein in die Hand, nahm seine Schultertasche und wartete nicht auf das Wechselgeld. Er wollte jedes einzelne Molekül abwaschen, das sich in Belmarsh auf seiner Haut festgesetzt hatte.
Derjenige, der ihn hierher dirigiert hatte, musste ein Mensch mit einem Sinn für Stil sein, fand Beckley, als er das hundert Jahre alte, unter Denkmalschutz stehende Gebäude im Art-déco-Stil betrat. Er kaufte in dem Geschäft im Foyer eine Badebürste, registrierte überrascht, wie teuer der Eintritt war, ging in den Umkleideraum der Männer und riss sich die durch das Gefängnis verseuchten Sachen vom Leibe. Das Bad war in der Tat gut ausgestattet, es gab mehrere Dampfbäder und Saunen: russische, türkische und auch eine finnische. Aber zuerst würde er sich waschen.
Im Duschraum seifte sich Beckley ein und bürstete seine Haut wie besessen, es dauerte eine Viertelstunde, bis er genug hatte. Sein Körper war feuerrot und brannte, als würden Minusgrade herrschen. Jetzt fühlte er sich schon ein wenig besser, ein bisschen sauberer. Er beschloss, zuerst einen Abstecher in die türkischeSauna zu machen. Die öffentlichen Schwimmbecken reizten ihn nicht sonderlich, garantiert hatte irgendein Primitivling ins Wasser gepinkelt.
Im türkischen Dampfbad war viel Platz. Beckley hatte sich kaum hingesetzt, da ließ sich der glatzköpfige, dickbäuchige und am ganzen Körper behaarte Mann, der nach ihm hereingekommen war, neben ihm nieder. Beckley wollte ein Stück weiter wegrücken, erstarrte aber, als der Fremde den Schlüssel einer Umkleidekabine neben seinen Fuß legte. Niemand anders schien die Handbewegung bemerkt zu haben. Es vergingen mehrere Minuten, dann wandte sich der Mann ihm zu, sagte mit ruhiger, leiser Stimme: »Nimm den Schlüssel und leg deinen auf den Boden«, und verließ das Dampfbad.
Beckley starrte ihm hinterher und überlegte. Sollte er dem Mann gehorchen oder ihn beim Personal melden oder sich weiter reinigen, als wäre nichts geschehen. Doch die Neugier behielt die Oberhand, das musste irgendwie mit seiner überraschenden Freilassung zusammenhängen.
Er beugte sich vor, nahm den Schlüssel und legte seinen an dessen Stelle. Im selben Augenblick ging die Tür auf und herein trat sein Spiegelbild. Der Mann war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, allerdings schien er ein, zwei Zentimeter größer zu sein. Beckley brauchte nur eine Sekunde oder zwei, dann begriff er, worum es sich handelte – jemand hatte die Absicht, seine Rolle zu übernehmen. Der Doppelgänger setzte sich neben ihn, schaute sich kurz um, hob den Schlüssel auf und ging hinaus. Beckleys Neugier wurde noch größer. Er verließ das Dampfbad.
Es dauerte eine Weile, bis er herausfand, dass sich der Schrank, zu dem der Schlüssel des behaarten Mannes passte, nicht in dem
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