Rot
nächste Rettungsboot wurde einundzwanzig Minuten nach dem Aufprall zerstört …
ZWEITER TEIL
Der Beginn der Zerstörung
6. Oktober – 8. Oktober
9
Donnerstag, 6. Oktober
Das Bild des Campus der Technischen Hochschulen im Espooer Stadtteil Otaniemi beherrschten die leuchtende Laubfärbung der Bäume und das von Alvar Aalto entworfene Hauptgebäude. Das Auditorium maximum des roten Ziegelbaus erinnerte an ein Segel, das sich im Wind blähte, und überragte alle anderen Häuser. Um sieben Uhr morgens herrschte auf dem Gelände eine gespenstische Ruhe, nur wenige Autos waren unterwegs. Kara hörte sich konzentriert die Nachrichten im Radio an, in denen von den zerstörten Nachrichtensatelliten und den Katastrophen auf dem amerikanischen Kontinent berichtet und über die Verwundbarkeit der modernen Informationsgesellschaft diskutiert wurde. Er hoffte, dass dem neuen Generaldirektor des UNODC nichts passiert war, und dieser Gedanke überraschte ihn. Leegaard war der erste Vorgesetzte, mit dem er möglicherweise auskommen würde.
Leo Kara stellte vor dem Nanohaus den Motor ab. Mühsam zwängte er sich aus dem Smart und trat in den Sonnenschein, aufrichtig davon überzeugt, dass er wie kaum ein anderer das Recht hatte, seinen Wagen auf einem Behindertenparkplatz abzustellen. Als er vor einigen Jahren die UNO-Konvention über die Rechte behinderter Personen übersetzt hatte, war er so sehr von der Definition des Begriffs Behinderung überrascht gewesen, dass er sie sich gemerkt hatte:
Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die lang fristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.
Diese Definition traf voll und ganz auf ihn zu.
Kara ging zur Puumiehenkuja und überlegte, wie er Kirsti Saurivaara seinen Besuch begründen sollte, nachdem die stellvertretende Generalstaatsanwältin ihm verboten hatte, über Käräväs Zusammenfassung zu sprechen. Zum Glück hatte er immerhin Zeit gehabt, die Anhänge der Zusammenfassung zu lesen, sein Kopf quoll über von Details der Treffen Kirsti Saurivaaras mit den Vertretern der Sowjetunion. Kara ging durch den Haupteingang des Tieftemperaturlabors und betrat das Foyer. Merkwürdigerweise spürte er den Duft Kati Soisalos immer noch.
Dekanin Kirsti Saurivaara war eine kleine, runde Frau, die einen sanftmütigen Eindruck machte, ihr Gesicht wurde von den viereckigen Brillengläsern dominiert. Sie zeigte sich erfreut, als sie ihn erblickte. »Aleksi Karas Sohn, willkommen. Dein Vater und ich waren seinerzeit sehr gute Bekannte. Es tut mir leid, dass wir uns um diese Uhrzeit sehen müssen, aber mein Kalender ist derzeit so voll, dass sich unvorhergesehene Besuche nur morgens oder am späten Abend einschieben lassen.« Kirsti Saurivaara bedeutete Kara, in einem Sessel des Foyers Platz zu nehmen und forderte ihn auf, sich Kaffee aus der Thermoskanne einzuschenken, die auf einem Tablett stand.
»Warum treffen wir uns hier?«, fragte Kara.
»Du wolltest doch etwas über unsere gemeinsamen Arbeitsjahre wissen, hier haben wir, dein Vater und ich, unsere Laufbahn begonnen – im Tieftemperaturlabor. Damals in den Siebzigerjahren befand sich diese Einrichtung allerdings ein paar hundert Meter entfernt in der Richtung.« Kirsti Saurivaara wies nach Osten. »Hier wurden Weltrekorde bei den niedrigsten Temperaturen aufgestellt – der letzte liegt bei hundert Pikokelvin.« Sie sah, wie Kara die Stirn runzelte. »Wir sind bis auf ein zehnmilliardstel Kelvin an den absoluten Nullpunkt, also –273,15 Grad Celsius, herangekommen.«
Kara wusste nicht, was er sagen sollte.
»Im jetzigen Nanohaus gibt es zwei vom Tieftemperaturlabor geführte Kompetenzzentren der Finnischen Akademie: das Kompetenzzentrum für Quantphänomene und Komponenten bei Niedrigtemperaturen und das Kompetenzzentrum für systemische Neurowissenschaften und Enzephalographie.«
Kara goss sich Kaffee in einen Pappbecher und schlug die Beine übereinander.
Kirsti Saurivaara betrachtete ihn wie ein altes Foto. »Es tut mir heute noch leid, was deinem Vater damals passiert ist«, sagte sie schließlich.
»Ich habe kürzlich erstaunliche Dinge über meinen Vater erfahren.« Kara gab Zucker in seinen Kaffee, rührte um und überlegte dabei fieberhaft, wie er fortfahren sollte. Vielleicht würde es funktionieren, wenn er die Dekanin überrumpelte. »Vater ist am Leben.«
Kirsti
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