Rot
es übermenschliche Charakterstärke erfordert, völlig nüchtern zu bleiben, als die Eagles sechs Touchdowns schafften. Und heute Abend musste er auch noch in die Schule zu Jakes Erziehungsgespräch mit dem Lehrer und dem Jungen. Als Vater, der schon zwei Kinder auf die Universität gebracht hatte, wusste er, dass man fünfzehnjährige Jungs nicht erziehen konnte. Man musste nur dann und wann ernsthaft vor Drogen warnen, daran festhalten, dass sie abends nicht zu spät nach Hause kamen, aufpassen, dass sie ihre Hausaufgaben machten und ansonsten das Beste hoffen.
Hanson wandte sich wieder dem Kontrolltisch zu und sah im selben Augenblick, dass alle Bilder, Kennzeichen und Flugrouten der Maschinen wie durch einen Zauberspruch vom Monitor verschwanden. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Hanson anfing sich Sorgen zu machen. An den Geräten oder den elektrischen Systemen von Hartsfield-Jackson traten äußerst selten Defekte auf, immerhin war das der verkehrsreichste Flughafen der Welt. Hanson war mit seinen Kollegen zusammen für die Sicherheit von fast einerMillion Flügen und achtundachtzig Millionen Passagieren pro Jahr verantwortlich. Plötzlich erkannte Hanson, dass auch das STCA-System, das bei Kollisionsgefahr warnte, außer Betrieb war. Sein Herz schlug schneller und sein Gesicht wurde heiß. Er hob den Kopf und sah die Verwirrung und Verzweiflung in den Gesichtern seiner Kollegen.
Erst eine halbe Stunde später würde Mark Hanson erfahren, dass die Überreste der 524 Passagiere jener Maschine, deren Start er eben begleitet hatte, in dem Moment gerade dreißig Kilometer entfernt auf den Felsen des Naturschutzgebietes Panola Mountain aufschlugen, zusammen mit den Trümmern einer Boeing 787 Dreamliner der Fluggesellschaft Delta und den Leichen ihrer 252 Passagiere. Nur ein paar Wanderer hatten den Zusammenstoß der Maschinen gesehen.
* * *
Emilio Guerrera lenkte einen Gabelstapler im Laderaum des Kreuzfahrtschiffes Oasis of the Seas der Royal Caribbean International, das irgendwo südlich der Insel Saint-Martin unterwegs war. Guerrera kam es so vor, als würde er Schweine für Weihnachten mästen. In das größte Kreuzfahrtschiff der Welt, das so hoch wie ein Wolkenkratzer war, brachte man jeden Morgen fünf oder sechs Sattelschlepper-Ladungen Lebensmittel. Während einer siebentägigen Kreuzfahrt wurden über zwanzigtausend Kilo Nahrungsmittel verbraucht: viertausend Kilo Salat, sechstausend Kilo Kartoffeln, tausend Kilo Zwiebeln … Die Touristen verschlangen jeden Tag fünfunddreißigtausend Portionen, angeblich gab es auf dem Schiff über zweihundert Köche. Irgendwie war das alles lächerlich. Die Leute in seinem Heimatdorf La Noria würden mit dieser Nahrungsmenge Jahre auskommen. Aber er wollte sich nicht beklagen, im Gegenteil, viele Mexikaner wären sogar bereit, ein Bein herzugeben für einen legalen Arbeitsplatz auf einem amerikanischenKreuzfahrtschiff. Von seinem Lohn lebten sowohl der Vater, die Mutter und der Bruder als auch seine Schwestern; alle nahen Verwandten, die nicht im Knast saßen wie jene, die man an der Grenze zu den USA erwischt hatte.
Emilio Guerrera fuhr Kartons in den Warenaufzug, mit dem sie in eines der vierundzwanzig Lokale des Schiffes befördert wurden. Er wusste nicht, dass der Tropensturm Evelyn die Karibische See mit fast hundert Stundenkilometern peitschte und das Navigationssystem des Schiffes schon seit über einer Stunde nicht mehr funktionierte.
Ein explosionsartiger Knall war zu hören, als die eine Milliarde Euro teure Oasis of the Seas, die 2009 im finnischen Turku vom Stapel gelaufen war, mit voller Kraft auf ein Korallenriff prallte. An der Schiffsflanke auf der Steuerbordseite entstand ein drei Meter hohes und hundert Meter langes Leck, durch das Meerwasser in neun wasserdichte Abteilungen strömte, fünf davon füllten sich sehr schnell. Das Schiff sank über zehn Meter und neigte sich bedrohlich zur Seite. Die Passagiere und die Mannschaft des dreihundertsechzig Meter langen, siebenundvierzig Meter breiten und von der Wasseroberfläche gemessen zweiundsiebzig Meter hohen Schiffes, insgesamt über achttausend Menschen, wurden in dreißig Rettungsboote evakuiert. Die ließ man in das von auslaufendem Öl schwarz gefärbte Meer hinab, das im Sturm Evelyn schäumte. Das erste der Rettungsboote wurde achtzehn Minuten nach dem Auflaufen in der durch den Orkan entstandenen Kreuzsee gegen die Uferfelsen der Insel Saba geschleudert, es zerschellte und sank, das
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