Rote Gruetze mit Schuss
frei. Huberta ist allein zu Haus.
Frau von Rissen fegt durch die weitläufigen Räume. Das Klackern ihrer Stiefelabsätze hallt von den hohen Wänden wider. In dem großen Salon stehen ein Flügel und drei englische Stilsofas mit einem Kirschholzgestell und gestreiften durchgesessenen Polstern. In einer zweitürigen Vitrine, ebenfalls aus Kirschholz, stapelt sich das umfangreiche Familienporzellan, das auch für größere Gesellschaften ausreicht. Durch die große Fensterfront des Wohnraumes hat man, vorbei an einem Staudenbeet, einen weiten Blick auf die Koppel des von-Rissen-Besitzes, auf der drei Pferde weiden. Die Wiese wird durch den Deich begrenzt, dahinter das Deichvorland, ein weiterer Deich und dann die Nordsee. Auf dem Beet blühen verloren ein paar Maiglöckchen, die Tulpen haben ihre Blütenblätter verloren. Auf dem Tischchen vor dem Fenster stehen ein voluminöses Rotweinglas und eine leere und eine halb ausgetrunkene Flasche Bordeaux.
Huberta von Rissen blickt verärgert auf die Weinflaschen und wirft die Rosenschere auf eines der Sofas. Sie trägt Reithosen und ihr obligatorisches tailliertes Tweedjackett mit Lederflicken auf den Ellenbogen, außerdem lederne Gartenhandschuhe. Ihre Stimmung an dem heutigen Nachmittag steht in krassem Gegensatz zu der Ausgelassenheit von Mozarts türkischem Rondo.
Der Biolandwirt Jörn Brodersen hatte sich gestern Abend ziemlich überhastet und ohne viele Worte von Huberta verabschiedet. Er hatte sie ganz schön blöd stehen lassen. Huberta war äußerst verärgert. Und dann platzte heute Morgen Professor Müller-Siemsen mit der Nachricht von Brodersens Tod bei ihr herein. Unglaublich, sie konnte es kaum fassen. Gestern hatte sie Jörn Brodersen noch zum Teufel gewünscht, aber jetzt war sie erschüttert.
Dass Müller-Siemsen mit ihr jetzt die Details des Kammerkonzertes besprechen wollte, das am nächsten Wochenende im Gut stattfinden soll, passte ihr überhaupt nicht. Sie gab sich alle Mühe, sich ihm gegenüber ihre Betroffenheit nicht anmerken zu lassen. Der HNO-Professor schwadronierte derweil gewichtig über das dramatische Ende des Biobauern. Dazwischen plapperte Huberta geistesabwesend über die Unterbringung des Dresdner Streichquartetts und die Bestuhlung des Veranstaltungsraumes. Als der Professor endlich gegangen war, wusste sie schon nicht mehr, was sie besprochen hatten.
Die sonst so kontrollierte Huberta von Rissen ist reichlich durcheinander. Die blasse Haut ist leicht gerötet. Die ungefärbten grauen Haare sind derangiert. DiePerlenkette hängt schief. Was war da bloß passiert? Jörn Brodersen ist tot. Und dann war ihr Mann auch mal wieder verschwunden.
Am Abend zuvor war es, wie sooft, zu einem heftigen Streit mit Onno gekommen. Onno hatte schon am frühen Nachmittag eineinhalb Flaschen Bordeaux geleert, dann hatte er sich ins Auto gesetzt, um zu Freunden auf ein Gut in die Nähe von Plön zu fahren. Seitdem war er auf dem Fredenbüller Gut nicht wieder aufgetaucht.
Huberta glaubt nicht, dass Onno in Plön ist. Den Gutsherrn zieht es nämlich viel lieber ins Spielkasino nach Travemünde. Mit seiner Spielleidenschaft hat er die Familie immer wieder in finanzielle Schwierigkeiten gebracht. Hubertas Familie musste schon mehrmals einspringen, vor ein paar Jahren sogar mit einer größeren Summe. Dafür hatte ihr Vater aber darauf bestanden, dass das Wiesengrundstück der von Rissens auf Hubertas Namen umgeschrieben wurde.
Huberta, Tochter einer Hamburger Kaffeedynastie, hatte sehr jung den fast zwanzig Jahre älteren Onno von Rissen geheiratet. Besonders glücklich war die Ehe nie gewesen, aber jetzt scheinen sie sich endgültig auseinandergelebt zu haben. Die Kinder sind gerade zum Studieren ins Ausland gegangen. Seitdem haben sich Huberta und Onno noch weniger zu sagen. Sein abnehmendes Interesse an ihr und die gleichzeitig zunehmende Leidenschaft für teure französische Rotweine haben es nicht unbedingt einfacher gemacht. Onno von Rissen trinkt mittlerweile regelmäßig zwei Flaschen Bordeaux am Tag. »Lieber eine Flasche zu früh als eineganze Kiste zu spät«, lautet Onnos Lieblingszitat des englischen Weinpapstes Hugh Johnson. So können die im Weinkeller des Gutes gelagerten Pomerol immer seltener ihr ganzes Potenzial entfalten.
Wenn der alte von Rissen getrunken hat, wird er oft cholerisch. Aber zu einer Trennung hat sich Huberta bislang nicht entschließen können. Sie hält sich derzeit mit der Organisation von Kulturveranstaltungen,
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