Rote Lilien
Laufschuhe mit verstärkten Spitzen trommelten ihr gegen Hüfte, Bauch und Oberschenkel, während sie neun Kilo pure Wut durch die schwüle Sommerhitze schleppte. »Ich wäre ja auch gern geblieben.« Hayleys Enttäuschung ließ ihre Stimme schärfer als beabsichtigt klingen. »Aber es geht eben nicht. Also wirst du lernen müssen, damit zurechtzukommen.« Der Schweiß tropfte ihr in die Augen und ließ alles in ihrem Blickfeld verschwimmen, sodass das schöne alte Haus vor ihr wie eine Fata Morgana flimmerte. Es war wie eine Illusion, die sie nie erreichen würde. Es würde immer weiter von ihr wegschwimmen, weil es gar nicht existierte. Nicht für sie. Sie hatte eigentlich nie dort hingehört. Es wäre besser, klüger und einfacher, wenn sie ihre Sachen packte und weiterzog. Weder das Haus noch Harper würden ihr je gehören. Solange sie hier blieb, war sie die Illusion.
»Was ist denn mit euch beiden los?« Als sie durch die flimmernde Hitze und das Zwielicht der Dämmerung Roz sah, wurde das Bild vor ihren Augen wieder scharf. Mit einem Mal hatte sie ein flaues Gefühl im Magen. Ihre tränenüberströmte Tochter warf sich Roz geradezu in die Arme. »Sie ist wütend auf mich«, stammelte Hayley.
Tränen traten ihr in die Augen, als Lily ihre Arme um Roz' Nacken schlang und an ihrer Schulter weinte. »Das wird nicht das letzte Mal sein.« Roz strich Lily beruhigend über den Rücken und wiegte sie hin und her, während sie Hayley aufmerksam musterte. »Was ist denn passiert?«
»Sie hat Harper gesehen. Und dann wollte sie bei ihm bleiben.«
»Es ist schwer, einen geliebten Mann zu verlassen.«
»Sie braucht ein Bad und muss ins Bett und das schon seit einer ganzen Weile. Tut mir Leid, dass wir dich gestört haben. Wahrscheinlich hat man ihr Geschrei bis nach Memphis gehört.«
»Ihr habt mich nicht gestört. Sie ist nicht das erste Baby mit einem lautstarken Wutanfall, und sie wird mit Sicherheit auch nicht das letzte sein.«
»Ich bring sie nach oben.«
»Nein, ich hab sie doch schon.«
Roz schickte sich an, in den ersten Stock zu gehen. »Ihr macht euch jetzt nur gegenseitig fertig. Genau das passiert, wenn sich ein Baby etwas in den Kopf gesetzt hat und die Mutter weiß, dass es etwas ganz anderes braucht. Und irgendwann hat man dann ein schlechtes Gewissen, weil sich die Kleinen benehmen, als würde gleich die Welt zusammenstürzen und es so aussieht, als hätte man ihnen höchstpersönlich den Boden unter den Füßen weggezogen.« Hayley kullerte eine Träne die Wange hinunter, und sie wischte sie weg. »Ich enttäusche sie doch so ungern.«
»Und wieso enttäuschst du sie, wenn du nur das tust, was das Beste für sie ist? Sie ist völlig übermüdet«, sagte Roz, während sie die Tür zum Kinderzimmer aufmachte und das Licht einschaltete.
»Und verschwitzt. Sie braucht ein Bad, ihren Schlafanzug und Ruhe. Du lässt das Wasser ein, und ich ziehe sie aus.«
»Aber das kann ich doch selbst ...«
»Schätzchen, du musst lernen, wie man teilt.« Da sich Lily auf Roz' Arm inzwischen beruhigt hatte, ging Hayley ins Bad, um den Hahn aufzudrehen. Sie goss ein wenig Badezusatz ins Wasser, weil Lily so gern mit Schaum spielte, und warf ihre Gummiente und einige Frösche hinein. Und ertappte sich dabei, wie sie ein halbes Dutzend mal die Tränen unterdrücken musste. »Na, du nackte Maus?«, hörte sie Roz sagen. »Oh, was haben wir denn da? Einen Bauchnabel, der unbedingt gekitzelt werden muss.« Lilys Lachen führte dazu, dass Hayley die Tränen wieder herunterschlucken musste, als Roz gleich darauf ins Bad kam.
»Warum stellst du dich nicht schnell unter die Dusche? Dir ist heiß, und du bist schlecht drauf. Lily und ich werden ein bisschen in der Badewanne spielen.«
»Aber das brauchst du doch nicht.«
»Du wohnst schon lange genug hier, um ganz genau zu wissen, dass ich das nicht tun würde, wenn ich es nicht wollte. Jetzt geh schon. Kühl dich ein bisschen ab.«
»In Ordnung.« Da Hayley befürchtete, jeden Moment in Tränen auszubrechen, ergriff sie die Flucht.
Hayley hatte sich wieder in der Gewalt, als sie zurückkam und sah, wie Roz der schläfrigen Lily ein kleines Nachthemd aus Baumwolle überzog. Das Kinderzimmer roch nach Puder und Seife, und ihre Tochter war so brav wie ein kleiner Engel. »Schau mal, Lily, da kommt deine Mama, um dir einen Gutenachtkuss zu geben.« Roz hob die Kleine hoch, die ihre Arme nach Hayley ausstreckte. »Komm doch noch kurz rüber ins
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