Rote Spur
Eröffnungstanz |416| des Brautpaares bei der Hochzeit üben. Der Bräutigam war etwas kleiner als die junge Frau und hatte die stämmige Statur eines Farmers. Milla hatte sein Gesicht an das eines kleinen Tieres in einem Zeichentrickfilm erinnert, das für komische Zwischeneinlagen sorgte. Seine Bewegungen waren unkoordiniert, und er tapste hölzern, unrhythmisch und steif über das Parkett, wenn auch mit großem Enthusiasmus und konzentriert gerunzelter Stirn. Während sich der Tanzlehrer am Rande der Tanzfläche äußerst geduldig mit ihm abmühte, führte die Braut vor dem Spiegel fehlerlos ihre Schritte aus – ganz versunken in ihre eigene Welt, in Gedanken schon bei dem großen Abend, gefangen in ihrem Wunschdenken, der Vorstellung vom schönsten Tag ihres Lebens, die Arme gerundet, als würde sie von einem leichtfüßigen Traumprinzen geführt.
In dem plötzlichen Tief nach dem Adrenalinrausch blickte Milla auf einmal auf ihr eigenes Leben zurück und erkannte glasklar, wie sehr sie sich etwas vorgemacht, die Konventionen befolgt, die Augen vor der Wirklichkeit verschlossen hatte. Die Enttäuschung war überwältigend, sie durchfuhr sie wie ein Stich und erfüllte sie mit einem Gefühl der Sinnlosigkeit und des Verlusts. Wie viele Jahre hatte sie vergeudet! Unerklärlicherweise sehnte sie sich mit schmerzlicher Intensität nach Barend, nach ihrem Kind, dem sie jetzt am liebsten von Angesicht zu Angesicht versichert hätte, wie leid es ihr tat, ohne zu wissen, wofür sie sich eigentlich entschuldigte.
Lukas sagte etwas. Sie kehrte wieder in die Realität zurück und bemerkte, dass ihre Augen nass und ihre Wangen tränenüberströmt waren. Verärgert wischte sie die Tränen mit dem Handrücken weg und fragte: »Was hast du gesagt?«
»Sie haben dich gesehen.«
Sie sah ihn verständnislos an.
»Osmans Leute haben dich gesehen, Milla. Wir müssen die Sache sein lassen. Bis … Bis es sicher ist.«
Es dauerte einen Moment, bis bei ihr der Groschen fiel. »Bis es sicher ist?«
|417| Zum ersten Mal wandte er den Blick von der Straße ab und sah sie an. »Ist mit dir alles in Ordnung?«
»Bis es sicher ist? Bis es sicher ist?« Sie explodierte vor Empörung. »Sicher? Was soll das heißen, Lukas, was soll dieses Wort heißen? Was bedeutet es in diesem Land? Wie kommst du bloß darauf? Sicher!« Tränen der Wut liefen ihr über die Wangen, sie konnte es nicht verhindern. »Wie kannst du so etwas sagen? Es gibt keine Sicherheit! Du weiß es, du weißt es ganz genau, redest aber trotzdem von ›Sicherheit‹! Das ist ein leeres Wort, nur eine nackte Hülse …«
Er streckte die linke Hand nach ihr aus, aber sie schlug sie weg. Ihre Stimme stieg noch eine halbe Oktave höher. »Lass das, Lukas, versuch nur nicht, mich zu beruhigen, lass das … Warum macht ihr das? Warum wollt ihr uns raushalten, uns betrügen, wir haben ein Recht darauf, es zu erfahren …«
Er versuchte, sie zu unterbrechen, aber sie übertönte ihn mit einem düsteren Wortstrom: »Ihr versteckt diese Welt vor uns, ihr, die ihr sie geschaffen habt. Ihr, die ihr dieses Land geschaffen habt, diesen Schlamassel von Hass und Neid, Kriminalität und Gewalt, Armut und Elend. Und jetzt setzt ihr alles daran, das zu übertünchen und zu verbrämen. Ihr glaubt, ihr könntet uns mit Glitzerkram ruhigstellen, Glamour, Shopping, Zeitschriften – steckt eure Köpfe in den Sand, das sind alles Lügen, und du lügst jetzt auch schon! Sicher! Bis du in Sicherheit bist, das wolltest du wohl sagen. Willst du mich irgendwo verstecken, Lukas? Willst du mir irgendwo eine Gehirnwäsche verpassen, mich hinter Mauern und Alarmanlagen verbergen und dich dann wieder zurück in eure Welt schleichen? Du willst deinen Plan aufgeben, weil eine Frau in dem Auto sitzt, das du gestohlen hast? Aber diese Wahl hast du nicht. Du wirst mich nicht los, du kannst mich nicht irgendwo rausschmeißen, ich will es sehen, ich will alles mit ansehen …«
Ihr Blick fiel auf die Pistole zu seinen Füßen, und sie bückte sich und hob sie auf. »Schau mal«, sagte sie, »ich bin nicht hilflos, ich kann …«
|418| »Milla!« Er packte mit der linken Hand ihren Unterarm und drückte ihn weg, so dass der Lauf der Pistole nicht mehr auf ihn gerichtet war. Sie wehrte sich, aber er war zu stark. Sie drückte den Abzug, doch nichts geschah. »Lass mich!«, schrie sie wild und wütend, sah den Sicherheitshebel, presste ihn mit dem Daumen hinein, drückte erneut den Abzug, der Schuss knallte
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