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Roter Drache

Roter Drache

Titel: Roter Drache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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immer erst sein Gebiß in den Mund, bevor er aufsteht. Jetzt geht er ins Bad. Er schaltet das Licht nicht an. Er findet die Kloschüssel auch im Dunkeln und setzt sich wie ein braver Junge auf sie nieder.

27. K APITEL

    D ie Veränderungen an Großmutter begannen sich im Win ter 1947 bemerkbar zu machen, als Francis acht war. Sie nahm die Mahlzeiten nicht mehr mit Francis in ihrem
    Zimmer zu sich. Statt dessen aßen sie nun im Speisesaal am selben Tisch mit den alten Leuten, die Großmutters Obhut anvertraut waren.
    Als junges Mädchen hatte Großmutter gelernt, die charmante Gastgeberin zu spielen, und so holte sie nun ihre alte Silberglocke wieder hervor, polierte sie auf Hochglanz und stellte sie neben ihr Gedeck. An einer Mittagstafel das Gespräch in Gang zu halten, dafür zu sorgen, daß jeder nachgereicht bekommt, und dabei die Unterhaltung nie erlahmen zu lassen, indem man leichthin auf die Vorzüge der schüchternen und zurückhaltenden Teilnehmer in der Runde hinwies und gleichzeitig die besonderen Stärken der Redegewandteren auf unaufdringliche Weise herausstrich, stellt eine keineswegs einfache Aufgabe dar, wobei sich die hierfür erforderlichen Talente zusehends geringerer Wertschätzung und damit auch Pflege erfreuen.
    Und Großmutter hatte sich einst wirklich auf diese Kunst verstanden. Entsprechend trugen ihre Bemühungen ganz wesentlich zur Bereicherung der Tafelfreuden jener zwei oder drei alten Gäste bei, die noch einer zusammenhängenden Konversation mächtig waren.
    Francis saß im Stuhl des Gastgebers am anderen Ende der Allee aus nickenden Köpfen, während Großmutter die Erinnerungen all jener zutage förderte, deren Gedächtnis noch verwertbare Schätze barg. So drückte Großmutter reges Interesse an Mrs. Floders Hochzeitsreise nach Kansas City aus, ging mit Mr. Baton mehrere Male die Unannehmlichkeiten des Gelbfiebers durch und lauschte voller Begeisterung den wirren, unverständlichen Gesprächsbeiträgen der restlichen Teilnehmer der Runde.
    »Ist das nicht höchst interessant, Francis?« bemerkte sie dann dazu und läutete mit ihrer Glocke nach dem nächsten Gang. Die Mahlzeiten bestanden aus verschiedenen Gemüse- und Fleischeinerleis, die sie jedoch, sehr zum Mißvergnügen der Küchenhilfe, in mehreren Gängen auftragen ließ.
    Pannen bei Tisch wurden einfach totgeschwiegen. Ein Läuten der Glocke und eine entsprechende Handbewegung mitten im Satz genügten, um sich all jener anzunehmen, die etwas verschüttet hatten, auf ihrem Platz eingeschlafen waren oder einfach vergessen hatten, weshalb sie bei Tisch saßen. Großmutter hatte stets so viele Bedienstete angestellt, wie sie sich leisten konnte.
    Mit zunehmender Verschlechterung ihres allgemeinen Gesundheitszustandes verlor Großmutter zusehends an Gewicht, so daß sie plötzlich viele Kleider tragen konnte, die sie längst weggepackt hatte. Einige davon waren sehr elegant. Was den Schnitt ihrer Gesichtszüge und ihre Frisur betraf, wies Großmutter auffällige Ähnlichkeit mit dem Porträt von George Washington auf dem Ein-DollarSchein auf.
    Bis zum Frühjahr hatten ihre Manieren etwas von ihrem anfänglichen Stand eingebüßt. Sie führte inzwischen ein unerbittlich strenges Regiment über die Tischgesellschaft und duldete keine Unterbrechungen, wenn sie von ihrer Mädchenzeit in St. Charles erzählte, wobei sie zur Erbauung Francis’ und der anderen höchst persönliche Eindrücke zum besten gab.
    1907 war Großmutter als durchaus liebreizende Debütantin in die bessere Gesellschaft von St. Louis eingeführt worden, was natürlich mit einer Reihe von Einladungen zu deren rauschenden Bällen verbunden gewesen war.
    Sie erzählte dies jedoch keineswegs nur zum Zeitvertreib, machte sie dabei geltend, sondern damit alle aus ihren Erfahrungen ›lernen‹ könnten. Sie sah währenddessen vor allem Francis an, der unter dem Tisch seine Beine übereinanderschlug.
    »Ich wuchs in einer Zeit auf, in der man noch kaum etwas tun konnte, um die kleinen Mißgeschicke der Natur auszubügeln«, erklärte sie in diesem Zusammenhang. »Ich hatte eine zarte Haut und wundervolles Haar und brachte diese Vorzüge auch entsprechend zur Geltung. Meine schlechten Zähne überspielte ich mit meiner Persönlichkeit und mit meinem Charme
- übrigens so erfolgreich, daß sie geradezu zu meinem ›Markenzeichen‹ wurden. Seltsamerweise machte gerade dieser scheinbare Makel das Besondere an mir aus. Jedenfalls hätte ich meine Zähne um nichts in der

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