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Roter Drache

Roter Drache

Titel: Roter Drache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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mit den Flügeln um sich schlug und eine Menge Staub aufwirbelte. Das in seiner Bewegungsfreiheit eingeengte Mädchen hopste unbeholfen zur Seite, als Blut auf ihre Füße und Beine spritzte.
    Seine Hose noch auf die Knöchel hinabgerutscht, sprang Francis auf. In diesem Moment kam Queen Mother Bailey auf der Jagd nach dem Huhn um die Ecke geschossen und entdeckte sie.
    »Jetzt hör mal gut zu, mein Junge«, erklärte sie daraufhin ruhig. »Du willst also sehen, was was ist. Nun gut, das hast du ja nun gesehen. Du kannst dich also jetzt wieder anderen Dingen zuwenden. Beschäftige dich wieder mit Kindersachen und behalt deine Kleider an. Und jetzt helft mir, diesen Gockel zu fangen.«
    Auf der Jagd nach dem fliehenden Hahn verflog die Verlegenheit der beiden Kinder rasch. Aber Großmutter hatte sie von einem Fenster im Obergeschoß beobachtet...
    Großmutter wartete, bis Queen Mother Bailey wieder ins Haus kam. Die Kinder verschwanden im Hühnerstall. Großmutter wartete fünf Minuten und schlich ihnen dann nach. Als sie die Tür aufriß, fand sie die beiden jedoch nur beim Federsammeln für einen Indianerkopfputz vor.
    Sie schickte das Mädchen nach Hause und führte Francis ins Haus.
Dort gab sie ihm zu verstehen, daß er wieder in Bruder Buddys Waisenheim müßte, nachdem sie ihn bestraft hätte. »Geh schon mal nach oben in dein Zimmer und zieh deine Hose aus. Und dann wartest du, bis ich meine Schere geholt habe.«
Für Francis begannen nun qualvolle Stunden des Wartens. Er lag mit heruntergezogener Hose auf dem Bett, verkrallte sich in die Laken und wartete auf Großmutter mit der Schere. Er wartete, während von unten die Geräusche des Abendessens hochdrangen, und dann hörte er das Knarzen und Quietschen des Wagens und das Hufgetrappel und das Schnauben der Maultiere, als Mr. Bailey Queen Mother abholen kam.
Irgendwann schlief er schließlich ein, um jedoch schon nach kurzer Zeit aus dem Schlaf hochzuschrecken und weiter zu warten. Großmutter sollte nie kommen. Vielleicht hatte sie einfach vergessen.
Er hörte auch während der nun folgenden, wie üblich verlaufenden Tage nicht auf zu warten; und konnte er doch einmal vergessen, kehrte die Erinnerung an seine drohende Strafe nur um so heftiger wieder zurück. Er hörte nie mehr auf zu warten.
Außerdem ging er von nun an Queen Mother Bailey aus dem Weg; er sprach nicht mehr mit ihr und sagte ihr auch den Grund dafür nicht. Fälschlicherweise war er nämlich zu der Ansicht gelangt, sie hätte Großmutter erzählt, was sie auf dem Hühnerhof gesehen hatte. Außerdem war Francis nun fest davon überzeugt, daß das Gelächter, das er hörte, wenn die Laterne des Maultiergespanns langsam in der Nacht verschwand, ihm galt. Es gab keinen Menschen, dem er trauen konnte.
Es war nicht leicht, ruhig liegen zu bleiben und Schlaf zu finden, wenn er daran denken mußte. Es war nicht leicht, in einer so hellen Nacht ruhig liegen zu bleiben.
Francis wußte, daß Großmutter recht hatte. Was er ihr nur angetan hatte. Er hatte ihr solche Schande gemacht. Alle mußten wissen, was er getan hatte - selbst die Leute im fernen St. Charles. Er war nicht wütend auf Großmutter. Ihm war klar, daß er sie sehr, sehr liebte. Er wollte alles wieder gutmachen. Er stellte sich vor, wie Einbrecher ins Haus eindrangen und er Großmutter vor ihnen beschützte, worauf sie alles zurücknahm, was sie über ihn gesagt hatte. »Du bist also doch kein Kind des Teufels, Francis. Du bist mein guter Junge.«
Er dachte an einen Einbrecher, der in das Haus eindrang, um sein Geschlechtsteil vor Großmutter zu entblößen.
Doch wie sollte Francis sie vor einem Einbrecher schützen? Er war doch viel zu klein und schwach, um es mit einem starken Einbrecher aufnehmen zu können.
Dieses Problem ließ er sich ausführlich durch den Kopf gehen. Da war zum Beispiel Queen Mothers Beil in der Speisekammer, das sie jedesmal mit einem Stück Zeitung sauberwischte, wenn sie ein Huhn damit umgebracht hatte. Um dieses Beil sollte er sich kümmern. Das war seine Sache. Er würde gegen seine Angst vor der Dunkelheit ankämpfen. Wenn er Großmutter wirklich liebte, dann hätte er es sein sollen, wovor andere sich im Dunkeln zu fürchten hatten. Wovor der Einbrecher sich zu fürchten hatte.
Er kroch die Treppe hinunter und fand das Beil, das an der Wand der Speisekammer von einem Nagel hing. Es strömte einen eigenartigen Geruch aus, ähnlich dem des Spülbeckens in der Küche, wenn dort ein Huhn ausgenommen wurde.

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