Roter Drache
Welt missen mögen.«
Sie wäre allen Ärzten mit dem größten Mißtrauen begegnet, führte sie danach in aller Ausführlichkeit aus; doch als sich herausstellte, daß sie wegen ihres schlechten Zahnfleischs ihre Zähne verlieren würde, suchte sie einen der renommiertesten Zahnärzte des Mittelwestens auf - einen gewissen Dr. Felix Bertl, der aus der Schweiz stammte. In gewissen Kreisen waren Dr. Bertls ›Schweizer Zähne‹ damals sehr populär, und in seiner Praxis herrschte reger Andrang.
Opernsänger, die aufgrund einer Veränderung ihrer Mundhöhle stimmliche Beeinträchtigungen fürchteten, Schauspieler und andere im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehende Persönlichkeiten, scheuten selbst den weiten Weg von San Francisco nicht, um sich von Dr. Bertl behandeln zu lassen. Dr. Bertl vermochte die ursprünglichen Zähne seiner Patienten genauestens nachzubilden und hatte reiche Erfahrungen mit den verschiedenen Materialien und ihren Auswirkungen auf die Resonanz.
Das neue Gebiß, daß Großmutter sich von Dr. Bertl hatte anfertigen lassen, unterschied sich in nichts von ihren natürlichen Zähnen. Sie trug es wie ehedem mit ungebrochenem Selbstbewußtsein und büßte nichts von ihrem ursprünglichen Charme ein, erklärte sie dazu mit einem spitzen Lächeln.
Falls es daraus etwas zu lernen geben sollte, so erntete Francis die Früchte solcher Belehrung erst viele Jahre später; jedenfalls stand für ihn jeder operative Eingriff außer Frage, solange er die Kosten hierfür nicht selbst zu tragen imstande war.
Francis überstand diese Vorträge während der Mahlzeiten, weil es danach etwas gab, worauf er sich freute.
Jeden Abend kam nämlich Queen Mother Baileys Mann sie in seinem Mauleselgespann abholen, mit dem er sonst Brennholz transportierte. Wenn Großmutter gerade oben im Haus zu tun hatte, durfte Francis mit den beiden das Wegstück bis zur Hauptstraße mitfahren.
Den ganzen Tag wartete er immer nur auf diese abendliche Fahrt, während der er neben Queen Mother auf dem Sitz saß, ihr großer, hagerer Mann stumm und im Dunkel fast unsichtbar, die eisernen Wagenräder laut über den Kies knirschend und das Quietschen und Knarzen der einzelnen Wagenteile übertönend. Die zwei Maultiere, braun und manchmal schlammbespritzt, ihre Mähnen kurz geschoren wie Bürstenborsten, schlugen im Gehen gegen die Fliegen mit ihren Schweifen um sich. Der Geruch von Schweiß und ausgekochtem Baumwollstoff, Kautabak und warmem Maultiergeschirr. Wenn Mr. Bailey gerade frisch gerodet hatte, roch es nach Holzfeuern, und gelegentlich, wenn er seine Büchse mit zur Arbeit genommen hatte, lagen hinten im Wagen ein paar Kaninchen oder Eichhörnchen, die Beine weit von sich gestreckt, als ergriffen sie mit weiten Sätzen die Flucht.
Sie redeten nicht, während sie zur Straße hinunterfuhren; Mr. Bailey sprach nur mit den Maultieren. Das Holpern des Wagens stieß Francis wohlig gegen die Baileys. Wenn sie ihn dann an der Hauptstraße absteigen ließen, versprach er ihnen jeden Abend von neuem, schnurstracks zum Haus zurückzugehen. Doch er blieb immer noch eine Weile stehen und sah der Laterne am Wagen hinterher, wie sie sich langsam entfernte. Er konnte hören, wie sich die beiden dann unterhielten. Manchmal brachte Queen Mother ihren Mann zum Lachen und fiel dann selbst mit ein. Wenn er so im Dunkeln stand, war es ein angenehmes Gefühl, sie zu hören und zu wissen, daß sie nicht über ihn lachten.
Später sollte er diesbezüglich zu einer anderen Auffassung gelangen...
Francis hatte sogar eine Spielkameradin, die ihn manchmal besuchen kommen durfte. Sie war die Tochter eines Pächters, der drei Felder weiter wohnte. Großmutter ließ das Mädchen mit Francis spielen, weil es ihr offensichtlich Vergnügen bereitete, der kleinen Marians Kinderkleider anzuziehen. Sie war ein rothaariges, träges Kind, das zum Spielen meistens zu müde war.
Eines heißen Juninachmittags, als sie keine Lust mehr hatte, auf dem Hühnerhof mit Strohhalmen nach Ameisenlöwen zu jagen, wollte sie unbedingt Francis’ Zipfelchen sehen.
In einer Ecke zwischen dem Hühnerhaus und der niedrigen Hecke, wo sie vom Erdgeschoß des Hauses aus nicht gesehen werden konnten, zeigte er ihn ihr. Als Gegenleistung zeigte sie ihm dann, was sie zu bieten hatte, und stand dabei mit ihrer auf die Knöchel hinabgerutschten Unterwäsche da. Während Francis nun in die Hocke ging, um besser sehen zu können, flatterte ein kopfloses Huhn um die Ecke, das blindlings
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