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Roter Drache

Roter Drache

Titel: Roter Drache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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durchzubeißen. Falls er sich mit den Absätzen am Boden abstützte, sein Körpergewicht gegen die Couch zurückstemmte und beide Hände um ihr Handgelenk legte, hätte sie sich ihm unmöglich noch rechtzeitig entziehen können. Mampf, mampf, mampf, mampf - den Daumen konnte er ihr ja lassen. Zum Kuchenabmessen.
Er ergriff ihre schön geformte, aber ziemlich verschrammte Hand mit Daumen und Zeigefinger, um sie im Licht zu drehen und zu wenden. Neben ein paar frischen Verletzungen wies sie eine Vielzahl kleiner Narben auf. Bei einer noch nicht lange verheilten Verletzung auf dem Handrücken hätte es sich um eine Verbrennung handeln können.
Nicht weit genug von Zuhause entfernt. Zu früh in seinem Werdegang. Außerdem würde er sie dann nicht mehr ansehen können.
Nachdem sie diese ungeheuerliche Bitte an ihn gerichtet hatte, konnte sie nichts Näheres über seine Person wissen. Offensichtlich war ihr kein Klatsch über ihn zu Ohren gekommen.
»Glauben Sie mir einfach, wenn ich Ihnen versichere, daß ich lächle«, bot er ihr an. Das S gelang ihm jetzt ganz gut. Und es stimmte tatsächlich, daß er eine Art Lächeln aufgesetzt hatte, das sein schönes Alltagsgebiß zum Vorschein kommen ließ.
Er hielt ihr Handgelenk über ihrem Schoß und ließ es dann los. Ihre Hand sank auf ihren Oberschenkel nieder, worauf ihre Finger wie ein abgewandter Blick über den Stoff ihrer Hose tasteten.
»Ich glaube, der Kaffee ist fertig«, sagte sie.
»Ich muß jetzt wieder los.« Er mußte weg von hier und nach Hause, um sich von dieser Erfahrung zu erholen.
Sie nickte. »Falls ich Ihnen zu nahe getreten sein sollte, so stand das nicht in meiner Absicht.«
»Keineswegs.«
Sie blieb sitzen und lauschte auf das Einschnappen des Türschlosses, als er ging.
Dann machte sich Reba McClane einen weiteren Gin Tonic. Sie legte eine Segovia-Platte auf und machte es sich auf der Couch bequem, wo sie noch die warme Vertiefung spüren konnte, die Dolarhyde im Sitzpolster zurückgelassen hatte. Auch in der Luft hatte er seine Spuren hinterlassen - Schuhcreme, ein neuer Ledergürtel, ein gutes Rasierwasser. Welch ein extrem zurückgezogener Mensch. Sie hatte im Betrieb kaum einmal über ihn tuscheln gehört; sie konnte sich nur erinnern, daß Dandridge zu einem seiner Speichellecker einmal von diesem ›Hurensohn Dolarhyde‹ gesprochen hatte.
Für Reba war ihre Intimsphäre etwas sehr Wichtiges. Als sie als Kind erblindet war und lernen hatte müssen, mit dieser Behinderung zurechtzukommen, hatte sie überhaupt keine Intimsphäre gehabt. Nun konnte sie in der Öffentlichkeit nie sicher sein, daß niemand sie anstarrte. Daß Francis Dolarhyde ihre Intimsphäre respektierte, war ihr durchaus positiv aufgefallen. Außerdem hatte sie von ihm kein Fünkchen Mitleid ausgehen gespürt, was ihr wichtig war. Der Gin tat ihr gut.
Die Gitarrenmusik kam ihr plötzlich arg hektisch vor. Deshalb legte sie ihre Walgesänge auf.
Drei harte Monate in einer neuen Umgebung. Mit dem nahenden Winter vor Augen, würde es sicher nicht einfach werden, im Schnee die Randsteine entlang des Gehsteigs zu ertasten. Doch Reba McClane, langbeinig und tapfer, duldete kein Selbstmitleid. Das würde sie erst gar nicht einreißen lassen. Sie war sich sehr wohl der starken Ader Krüppelwut tief in ihrem Innern bewußt, die sie sich, wenn sie sich ihrer schon nicht entledigen konnte, wenigstens für ihre Zwecke zunutze machen wollte; sie war gerade recht, ihren Drang nach Unabhängigkeit zu nähren und ihre Entschlossenheit zu stärken, jedem Tag von neuem das Beste für sich abzuringen.
Auf ihre Weise war sie sogar ganz schön abgebrüht. Jeder Glaube an irgendeine Art natürlicher Gerechtigkeit war in ihren Augen nichts weiter als Augenwischerei. Was auch immer sie tun würde, sie würde genau wie alle anderen enden - flach auf dem Rücken liegend, einen Schlauch in der Nase und sich fragend: »Ist das alles?«
Sie wußte, daß sie nie wieder würde sehen können, aber es gab andere Dinge, die sie noch erreichen konnte. Dinge, an denen sie ihre Freude haben würde. Sie hatte Befriedigung daraus gewonnen, ihren Schülern zu helfen, und dieses Gefühl der Bestätigung war eigenartigerweise noch zusätzlich durch das Wissen intensiviert worden, daß sie dafür, ihnen geholfen zu haben, weder belohnt noch bestraft werden würde.
Bei ihren Bekanntschaften reagierte sie ganz besonders empfindlich auf alle jene, die sie von sich abhängig zu machen und dann entsprechend zu gängeln

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