Roter Drache
Bedauerlicherweise hat er sich nicht breitschlagen lassen, wenigstens eine Reklametafel am Käfig anzubringen.«
Sie befühlte mit ihren zerschrammten, aber sehr empfindlichen Fingern den gekrümmten, spitz zulaufenden Gegenstand. »Hervorragend gearbeitet!« Ganz in der Nähe hörte sie langsames, tiefes Atmen.
»Da werden die Kinder was zu sehen bekommen, wenn er gähnt«, fuhr Hassler fort. »Und ich kann mir nicht vorstellen, daß dadurch irgendwelche Diebe in Versuchung kommen werden. Aber jetzt wird’s erst wirklich interessant. Sie haben doch nicht etwa Angst? Ihr muskulöser Begleiter läßt uns keine Sekunde aus den Augen. Er hat Sie doch nicht etwa gegen Ihren Willen dazu überredet?«
»Nein, nein, keineswegs.«
»Wir stehen gerade hinter seinem Rücken«, schaltete sich Dr. Warfield wieder ein. »Der Tiger schläft etwa einen knappen Meter von Ihnen entfernt auf einem hüfthohen Operationstisch. Wissen Sie was: Ich plaziere jetzt Ihre linke Hand - Sie sind doch Rechtshänderin, oder? - ich lege also Ihre linke Hand auf den Rand des Tischs, und Sie können sich dann mit Ihrer rechten weiter vortasten. Lassen Sie sich ruhig Zeit. Ich bleibe direkt an Ihrer Seite.«
»Genau wie ich«, fügte Dr. Hassler hinzu. Den beiden machte das Ganze offensichtlich Spaß. Unter den heißen Lampen der Deckenbeleuchtung roch ihr Haar wie frisches Sägemehl in der Sonne.
Reba konnte die Hitze auf ihrem Scheitel spüren. Sie brachte ihre Kopfhaut zum Prickeln. Sie roch ihr warmes Haar, Warfields Seife, Alkohol und Desinfektionsmittel - und die Katze. Für einen Augenblick stockte ihr der Atem, doch gleich darauf hatte sie sich wieder gefaßt.
Sie ergriff die Tischkante und streckte dann behutsam ihre andere Hand aus, bis ihre Finger Fellspitzen ertasteten; sie waren warm von der Beleuchtung. Ihre Finger durchdrangen eine kühlere Schicht, bis ihr plötzlich eine intensive, beständige Wärme von innen entgegenstrahlte. Sie legte ihre Hand nun flach auf das dichte Fell und bewegte sie vorsichtig darüber hinweg, so daß sie das Fell - mit und gegen den Strich - über ihre Handfläche streifen spürte; und dann glitt ihre Hand tiefer über die mächtigen Rippenbögen, die sich langsam hoben und senkten.
Sie griff so in das Fell, daß Fellhaare sich zwischen ihren Fingern hindurchzwängten. Angesichts der Gegenwart des Tigers verfärbte sich ihr Gesicht rosa und sie verfiel in das für Blinde charakteristische übertriebene Mienenspiel, das sie sich ansonsten mühsam abgewöhnt hatte.
Warfield und Hassler bemerkten, wie Reba sich selbst vergaß, und freuten sich darüber. Sie sahen sie durch eine schlierige Fensterscheibe, ein Sichtfenster neuer Eindrücke, gegen das sie ihr Gesicht preßte. Als Dolarhyde sie aus dem Hintergrund beobachtete, erzitterten die gewaltigen Muskeln in seinem breiten Rücken leicht. Ein Tropfen Schweiß kullerte über seine Rippen.
»Ja, und so richtig ans Eingemachte geht es erst auf der anderen Seite«, ertönte dicht an Rebas Ohr Dr. Warfields Stimme.
Während er sie um den Tisch herumführte, folgte Rebas Hand der Linie des Schwanzes des Tigers. Dolarhydes Brust schnürte sich unwillkürlich einen Augenblick zusammen, als ihre Finger über die Hoden glitten. Sie hielt sie kurz in ihrer hohlen Hand und nahm dann ihre Wanderung wieder auf. Warfield hob eine der mächtigen Tatzen und legte sie in ihre Hand. Sie befühlte die Rauhheit der Ballen und nahm ganz schwach den Geruch des Käfigbodens wahr. Warfield drückte gegen einen Ballen, um die Kralle hervortreten zu lassen. Die gewaltigen, geschmeidigen Schultermuskeln füllten ihre Hände. Sie ertastete die Ohren des Tigers, die Breite seines Kopfs und ganz vorsichtig, unter der Führung des Tierarzts, die rauhe Zunge. Heißer Atem strich über den Flaum ihrer Unterarme.
Zum Schluß steckte ihr Dr. Warfield das Stethoskop in die Ohren. Ihre Hände auf dem rhythmisch sich hebenden und senkenden Brustkorb, das Gesicht nach oben gewandt, war sie vom hellen Donner des Tigerherzens erfüllt.
Auf der Heimfahrt hatte sich über Reba McClanes leicht gerötetes Gesicht ein fast verzückter Ausdruck gelegt. Einmal wandte sie sich Dolarhyde zu und sagte langsam: »Danke... vielen, vielen Dank. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, könnte ich jetzt einen Martini vertragen.«
»Warten Sie einen Moment«, forderte Dolarhyde sie auf, nachdem er vor dem Haus angehalten hatte.
Sie war froh, daß sie nicht zu ihr gefahren waren. Ihre Wohnung wäre ihr jetzt abgestanden
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