Roter Drache
aus.
Auf dem Band stieß Freddy Lounds gerade seinen entsetzlichen Schrei aus.
Der junge Mann zuckte zusammen.
»Tut mir leid«, tröstete ihn Graham.
»Wie Sie das nur aushalten«, erklärte der junge Mann mitfühlend.
»Sie können jetzt ruhig wieder gehen«, entließ ihn Graham.
Dann ließ er sich langsam auf einer Geschworenenbank nieder, um den Brief zu lesen. Er sehnte sich immer mehr nach Trost und Zuspruch. Der Brief war von Dr. Hannibal Lecter.
Lieber Will,
zuerst meinen herzlichen Glückwunsch zu der eleganten Art, wie
Sie sich Freddy Lounds’ entledigt haben. Sie dürfen meiner uneingeschränkten Bewunderung gewiß sein. Was Sie doch für ein gerissener
Bursche sind!
Mr. Lounds hat mich zwar oft genug mit seinem ignoranten Geschwätz beleidigt, aber bezüglich eines Punktes hat er mir doch eine
wichtige Information zukommen lassen - ich spiele damit auf Ihre
Einlieferung in eine Nervenheilanstalt an. Mein unfähiger Anwalt
hätte das vor Gericht zur Sprache bringen sollen, aber vergessen wir
das.
Wissen Sie, Will, Sie machen sich einfach zu viele Gedanken. Es könnte Ihnen wesentlich besser gehen, wenn Sie etwas entspannter an
die Dinge herangingen.
Wir schaffen uns unsere Persönlichkeit nicht, Will; sie wird uns mit
unserer Lunge, unserer Bauchspeicheldrüse und allem anderen bereits
in die Wiege gelegt. Weshalb also dagegen ankämpfen? Ich möchte
Ihnen helfen, Will, und ich werde damit anfangen, indem ich Sie
folgendes frage: Als Sie damals so deprimiert waren, nachdem Sie Mr.
Garrett Jacob Hobbs erschossen hatten, war es doch nicht die Ta t, die
Sie so bedrückt hat, oder? Haben Sie sich denn in Wirklichkeit nicht
deshalb so schlecht gefühlt, weil es ein so wundervolles Gefühl
war, ihn zu töten?
Lassen Sie sich das mal durch den Kopf gehen, aber machen Sie
sich deswegen nicht gleich zu viele Sorgen. Weshalb sollte es kein gutes
Gefühl gewesen sein? Für Gott muß es doch auch ein herrliches Gefühl sein - Er tut das doch die ganze Zeit; und sind wir nicht nach
Seinem Bild und Gleichnis geschaffen?
Vielleicht haben auch Sie gestern in der Zeitung gelesen, daß Gott
Mittwochabend in Texas ein Kirchendach auf 34 Seiner Gläubigen
hat fallen lassen - und das gerade, als sie Ihm mit einem Kirchenlied
huldigten. Können Sie sich nicht vorstellen, daß das ein fantastisches
Gefühl gewesen sein muß?
Vierunddreißig. Finden Sie nicht, daß er Ihnen angesichts dessen
Hobbs durchaus gönnen konnte. Letzte Woche hat er bei einem Flugzeugabsturz 160 Filipinos bekommen - weshalb sollte er Ihnen da
nicht den lausigen Hobbs lassen. Er wird Ihnen doch nicht wegen
eines lausigen Mordes böse sein. Oder auch wegen zweier, wie das
inzwischen der Fall ist. Keine Sorge, das ist schon in Ordnung. Sie brauchen nur regelmäßig die Zeitung zu lesen, dann werden
Sie schon merken, daß Ihnen Gott immer um einiges voraus ist. Mit
den besten Grüßen,
Dr. Hannibal Lecter. Graham hatte absolute Gewißheit, daß Lecter sich bezüglich
Hobbs von Grund auf täuschte, aber für den Bruchteil einer
Sekunde hatte er sich doch gefragt, ob er im Fall von Freddy
Lounds nicht doch bis zu einem gewissen Grad recht hatte. Der
feindliche Teil in Graham pflichtete jeder solchen Anschuldigung bei.
Er hatte auf dem Foto im Tattler deshalb seine Hand auf Freddy
Lounds’ Schulter gelegt, um deutlich zu machen, daß er Freddy
Lounds tatsächlich diese Beleidigung des Drachen anvertraut
hatte. Oder hatte er damit Freddy doch in Gefahr bringen wollen, wenn auch nur ein ganz klein wenig?
Doch die Gewißheit, daß er sich wissentlich auf keinen Fall
eine Gelegenheit entgehen hätte lassen, den Drachen möglicherweise zu fassen, sprach ihn von diesem Vorwurf frei. »Ich habe euch langsam gründlich satt, ihr verrückten Dreckskerle«, sprach Graham laut in die Leere des Gerichtssaals hinaus. Er mußte eine Pause einlegen. Als er Molly im Haus von
Willys Großeltern anzurufen versuchte, ging niemand ans Telefon. »Vermutlich sind sie wieder in ihrem verdammten
Campingbus unterwegs«, murmelte er frustriert. Als er schließ
lich einen Kaffee trinken ging, tat er dies zum Teil auch, um
sich selbst zu bestätigen, daß er sich nicht in dem Geschworenenzimmer verkroch.
Im Schaufenster eines Juweliergeschäfts fiel ihm ein herrlich
gearbeitetes, altes Goldarmband auf. Es kostete ihn fast seinen
ganzen Gehaltsscheck. Er ließ es verpacken und für den Postversand frankieren. Doch erst nachdem er sich vergewissert
hatte, daß niemand ihm zum Briefkasten
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