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Roter Drache

Roter Drache

Titel: Roter Drache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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gefolgt war, adressierte er das Päckchen an Molly in Oregon. Graham wurde jedoch
dabei, im Gegensatz zu Molly, nicht bewußt, daß er Geschenke
vor allem dann machte, wenn er wütend war.
Er wollte nicht in den Geschworenenraum und an die Arbeit zurück; doch blieb ihm keine andere Wahl. Der Gedanke an
Valerie Leeds verhalf ihm wieder zu neuer Energie. Tut mir leid, aber ich kann im Augenblick nicht ans Telefon, hatte
Valerie Leeds gesagt.
Er wünschte sich, sie kennengelernt zu haben. Er wünschte
sich... welch ein sinnloser, kindischer Wunsch.
Graham war müde, gereizt und erschöpft, und dies in einer
Weise, die ihn in die Denkstruktur seiner frühesten Kindheit
zurückholte, indem die ersten Maßeinheiten, die er gelernt hatte, sich darauf beschränkt hatten, daß die Himmelsrichtung
›Norden‹ durch den Highway 61 und ›eins achtzig‹ durch die
Körpergröße seines Vaters bestimmt waren.
Er zwang sich, endlich das Persönlichkeitsprofil der Mordopfer anhand der zahlreichen Polizeiberichte und seiner eigenen
Beobachtungen bis ins kleinste Detail niederzuschreiben. Wohlstand. Das war eine Gemeinsamkeit. Beide Familien
waren wohlhabend gewesen. Nur komisch, daß Valerie Leeds
an ihren Strumpfhosen gespart hatte.
Graham überlegte, ob sie wohl aus armen Verhältnissen gestammt hatte. Fast glaubte er sich in dieser Annahme bestätigt;
ihre Kinder waren fast etwas zu sehr herausgeputzt und verwöhnt gewesen.
Auch Graham war das Kind armer Eltern gewesen; er war
seinem Vater von den Werften in Biloxi und Greenville zu den
Booten am Erie-See gefolgt. Immer der Neue in der Schule,
immer der Fremde. Er hegte einen nur halb begrabenen Groll
gegen die Reichen. Valerie Leeds könnte durchaus ein Kind armer Eltern gewesen sein. Er war versucht, sich seinen Film von
ihr noch einmal anzusehen. Er hätte das im Gerichtssaal problemlos tun können.
Nein. Die Leeds waren nicht sein eigentliches Problem. Die
Leeds kannte er inzwischen ganz gut. Aber über die Jacobis
wußte er noch kaum etwas.
Sein Mangel an intimerer Kenntnis der Jacobis quälte ihn.
Der Brand in Detroit hatte alle Erinnerungen vernichtet - Fotoalben, vermutlich auch die Tagebücher.
Deshalb versuchte Graham sich anhand der Dinge, die sie
sich gewünscht, die sie gekauft und benutzt hatten, ein Bild von
ihnen zu machen. Das war alles, was er hatte.
Die Nachlaßakte der Jacobis war fast zehn Zentimeter dick
und bestand größtenteils aus Besitzaufstellungen - ein nach dem
Umzug nach Birmingham von Grund auf neuer Haushalt. Schau
sich mal einer diesen ganzen Mist an. Es war alles versichert und,
wie es die Versicherungsgesellschaften forderten, fein säuberlich mit Gerätenummer aufgeführt. Man kann sich eben darauf
verlassen, daß sich ein Mann, dem mal der gesamte Besitz verbrannt ist, das nächste Mal entsprechend versichern wird. Anstatt
von Xerokopien der Versicherungsangaben hatte ihm der Nachlaßverwalter Byron Metcalf nur Durchschläge geschickt, die sich
schwer lesen ließen.
Jacobi hatte ein Wasserskiboot gehabt; Leeds hatte ein
Wasserskiboot gehabt. Jacobi hatte ein Motorrad gehabt, Leeds
eine Geländemaschine. Graham befeuchtete seinen Daumen
und blätterte weiter.
Der vierte auf der zweiten Seite aufgeführte Gegenstand war
ein Chinon Pacific-Filmprojektor. Graham stutzte. Wie hatte er
den nur übersehen können? Er hatte sich doch den Inhalt jeder
Kiste in dem Lagerhaus in Birmingham genauestens vorgenommen und auf alles geachtet, das ihm tiefere Einblicke in das Wesen
der Jacobis hätte gewähren können.
Wo war der Projektor? Er konnte diese Versicherungserklärung mit der Liste vergleichen, die Byron Metcalf in seiner
Funktion als Nachlaßverwalter aufgestellt hatte, als von ihm die
Lagerung des Jacobi-Besitzes überwacht wurde. Diese Liste war
vom Inspizienten des Lagerhauses gegengezeichnet worden. Es dauerte fünfzehn Minuten, die Liste der gelagerten Gegenstände durchzugehen. Kein Projektor, keine Kamera, kein
Film.
Graham ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken und starrte
die Jacobis an, die ihm aus dem vor ihm aufgestellten Foto
entgegenlächelten.
Was zum Teufel habt ihr damit angestellt?
Wurde er gestohlen?
Hatte ihn der Mörder gestohlen?
Falls der Mörder ihn gestohlen hatte, hatte er ihn verkauft? Vielleicht brachte ihn der gestohlene Projektor auf eine heiße
Spur.
Graham war plötzlich nicht mehr müde. Er wollte wissen, ob
sonst noch etwas fehlte. Über eine Stunde lang verglich er die
Versicherungsaufstellungen mit der

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