Roter Drache
Zeitung ist, die einen Bericht über Lecter und dich brachte«, sagte Crawford, während er sich ein Glas Wasser einschenkte und ein Alka-Seltzer hineingab. »Möchtest du auch eines? Würde dir bestimmt gut tun. Der Tattler mit dem Artikel wurde letzte Woche Montagabend gedruckt. Am Dienstag war er dann an jedem Zeitungskiosk des Landes erhältlich - mit Ausnahme einiger Gebiete wie Alaska oder Maine, wo er erst am Mittwoch zur Verbreitung gelangte. Unser Freund hat sich jedenfalls auch eine Ausgabe besorgt, aber auf keinen Fall vor Dienstag. Er liest den Artikel und schreibt an Lecter. Rankin und Willingham durchsuchen noch immer die Anstaltsabfälle nach dem Kuvert. Keine schöne Arbeit. In Chesapeake sondern sie nämlich das Papier nicht von den Windeln ab.«
»Lecter bekommt den Brief also frühestens am Mittwoch. Er reißt den Teil heraus, der sich damit befaßt, wie er antworten soll, und streicht eine andere Stelle durch, um sie unleserlich zu machen - wobei ich allerdings nicht recht verstehe, warum er die nicht auch rausgerissen hat.«
»Sie befindet sich mitten in einem Abschnitt voller Komplimente«, warf Graham ein. »Die zu vernichten, hat er offensichtlich nicht übers Herz gebracht. Und das ist auch der Grund, warum er den ganzen Schrieb nicht vernichtet hat.« Er rieb sich mit den Knöcheln die Schläfen.
»Bowman glaubt, daß Lecter der Zahnschwuchtel über den Tattler zu antworten versuchen wird. Er geht davon aus, daß ihm sein ›glühender Verehren das in dem Brief vorgeschlagen hat. Glaubst du eigentlich wirklich, daß er darauf antworten wird?«
»Natürlich. Zumal er doch nichts lieber tut, als Briefe zu schreiben. Er hat doch überall im Land seine Brieffreunde sitzen.«
»Falls Lecter seinem Freund vermittels des Tattler eine Nachricht zukommen lassen will, dann dürfte die Zeit doch wohl kaum gereicht haben, noch in der heute abend erscheinenden Ausgabe eine Annonce unterzubringen, selbst wenn er sie schon am selben Tag, als er den Brief erhalten hat, per Eilboten losgeschickt hätte. Übrigens nimmt sich Chester, von unserer Außenstelle in Chicago, in der Druckerei schon die Annoncen vor. Der Tattler wird nämlich in Chicago gedruckt.«
»Daß bloß die Redaktion des Tattler davon nicht Wind bekommt«, warnte Graham.
»In der Druckerei denken sie, Chester wäre ein Makler, der möglichst früh an die Wohnungsannoncen herankommen will. Der Vorarbeiter verkauft ihm die Druckfahnen unter der Hand, und entsprechend wird er auch dafür sorgen, daß niemand etwas davon erfährt. Aber jetzt mal angenommen, wir finden heraus, wie Lecter seinem ›glühenden Verehrer‹ antworten sollte, und es gelingt uns anhand dessen, dem Mörder eine falsche Botschaft zu übermitteln - was wollen wir ihm dann überhaupt übermitteln? Wie sollen wir von dieser Möglichkeit Gebrauch machen?«
»Das Naheliegendste wäre, ihn zu einem toten Briefkasten zu locken«, schlug Graham vor. »Ihn mit etwas ködern, das er unbedingt sehen sollte. Zum Beispiel › wichtiges Beweismaterial‹, von dem Lecter aus den Gesprächen mit mir weiß. Irgendein Fehler, der ihm unterlaufen ist und auf den wir nun warten, daß er ihn wiederholt.«
»Er müßte ganz schön dumm sein, darauf hereinzufallen. «
»Allerdings. Aber weißt du, was der beste Köder wäre?«
»Nein.«
»Der beste Köder wäre eindeutig Lecter. «
»Und wie stellst du dir das vor?«
Graham verharrte erst eine Weile in nachdenklichem Schweigen. »Die Sache wäre ganz schön haarig. Lecter müßte in den Hochsicherheitstrakt einer VA-Nervenheilanstalt verlegt werden, wo er der Verantwortung des FBI unterstellt wäre, da Chilton in Chesapeake sich für so etwas bestimmt unter keinen Umständen hergeben würde. Und dann müßten wir einen geglückten Ausbruch Lecters aus der Anstalt fingieren.«
»Gütiger Gott.«
»Dann lassen wir der Zahnschwuchtel in der ersten Ausgabe des Tattler nach dem großen ›Ausbruch‹ eine Nachricht zukommen, in der ihn Lecter um ein Treffen bittet.«
»Warum um alles in der Welt sollte irgend jemand sich mit Lecter treffen wollen? Ich meine, selbst die Zahnschwuchtel?«
»Um ihn zu töten, Jack.« Graham stand auf. Es gab in Crawfords Büro kein Fenster, aus dem er beim Sprechen hätte schauen können. Also blieb er statt dessen vor einem Plakat mit den zehn ›am meisten gesuchten Personen‹ stehen, Crawfords einzigem Wandschmuck. »Auf diese Weise könnte ihn sich die Zahnschwuchtel einverleiben, ihn absorbieren und auf diese
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