Roter Engel
Leben zu retten!«
Corcoran unterbrach den Disput. »Ich darf doch bitten! Wir sind hier ja nicht in einem Boxkampf. Wir müssen darüber reden, wie wir diese neuerliche Krise behandeln.«
»Was für eine neuerliche Krise?« fragte Toby.
Alle sahen sie überrascht an.
»Das konnte ich dir noch nicht sagen«, sagte Paul. »Ich habe es auch gerade erst erfahren. Ein paar Zeitungen haben die Geschichte aufgeschnappt. Mit einer Schlagzeile in der Art: ›Vergessener Patient verschwindet aus Notaufnahme‹. Ein Reporter hat vor einer Weile angerufen und nach Einzelheiten gefragt.«
»Und was macht das so meldenswert?«
»Es ist wie die berühmte Geschichte ›Chirurg amputiert falsches Bein‹. Die Leute wollen lesen, was alles so schiefläuft in den Krankenhäusern.«
»Aber von wem wissen es die Zeitungen?« Toby sah in die Runde, und für einen kurzen Moment kreuzten sich ihr und Careys Blick. Er sah wieder weg.
»Vielleicht wissen sie es von den Angehörigen von Slotkin«, sagte Beckett. »Vielleicht wollen sie auf diese Weise eine Klage untermauern. Wir wissen wirklich nicht, wie die Zeitungen an die Story gekommen sind.«
Ruhig und in gehässigem Ton sagte Carey: »Pfusch spricht sich herum.«
»Wenn Ihnen einer unterläuft, kriegen Sie es gewöhnlich hin, daß er unter den Teppich gekehrt wird«, sagte Toby.
»
Bitte
«
,
sagte Corcoran. »Wenn man den Patienten unversehrt findet, ist für uns die Sache okay. Aber es sind jetzt zwei Tage vergangen, und soviel ich weiß, gibt es noch keine Spur von ihm. Wir können nur inständig hoffen, daß sie ihn heil und wohlbehalten finden.«
»Heute morgen hat schon zweimal ein Reporter in der Notaufnahme angerufen«, sagte Maudeen.
»Ich hoffe, keiner hat mit ihm geredet.«
»Nein. Die Schwestern haben gleich wieder eingehängt.«
Paul lachte kläglich. »Ja, so kann man auch mit der Presse umgehen.«
»Wenn sie den Mann einfach nicht finden«, sagte Corcoran, »kommen wir vielleicht mit einigen Verrenkungen, aber unbeschadet aus der Sache heraus. Dummerweise sind die Alzheimer-Patienten oft noch gut zu Fuß und können meilenweit wandern.«
»Er hat keinen Alzheimer«, sagte Toby. »In seiner Krankenakte steht kein Wort davon.«
»Aber Sie sagten, er war verwirrt.«
»Ich weiß nicht, warum. Meine Untersuchung hat nichts Schlüssiges ergeben. Die Bluttests kamen ohne Befund aus dem Labor zurück. Leider sind wir nicht mehr dazu gekommen, ein CT zu machen. Vielleicht wären wir damit zu einer Diagnose gekommen, aber ich bin eben nicht fertig geworden.« Sie holte tief Luft. »Doch eines habe ich mich wirklich gefragt: ob er nicht unter Anfällen gelitten hat.«
»Haben Sie so etwas beobachtet?«
»Ich habe bemerkt, daß sein Bein zitterte. Aber ich kann nicht sagen, ob das bewußt war oder zwanghaft.«
»O Gott.« Paul sank in seinem Stuhl zurück. »Hoffen wir nur, daß er nicht über irgendeinen Highway wandert oder in der Nähe von Wasser. Da könnte er in Schwierigkeiten geraten.«
Corcoran nickte. »Und wir auch.«
Nach der Sitzung bat Paul Toby, sich mit ihm noch einen Moment in der Cafeteria zusammenzusetzen. Es war drei Uhr, und seit einer Stunde war die Mittagessenausgabe geschlossen. Sie mußten sich also an die Verkaufsautomaten halten mit ihren Chips und Crackers und dem allgegenwärtigen Kaffee, der so stark war wie Batteriesäure. Die Cafeteria war leer, und sie hatten bei den Tischen die volle Auswahl. Aber Paul steuerte auf den Ecktisch zu, der am weitesten von der Tür stand. Und am weitesten entfernt für neugierige Ohren.
Er setzte sich, ohne sie anzusehen. »Leicht ist das nicht für mich«, sagte er.
Sie nahm einen Schluck Kaffee und stellte den Becher vorsichtig vor sich hin. Er sah sie noch immer nicht an, sondern starrte auf die Tischplatte. Neutrales Territorium. Daß er ihrem Blick auswich, paßte eigentlich nicht zu Paul. In den Jahren ihrer Zusammenarbeit hatte sich zwischen ihnen eine schöne, offene Freundschaft entwickelt. Wie immer bei Freundschaften zwischen einem Mann und einer Frau gab es natürlich auch Unaufrichtigkeiten. Sie würde niemals zugeben, wie überaus anziehend sie ihn von Anfang an gefunden hatte, weil das nichts gebracht hätte. Sie mochte seine Frau Elizabeth einfach zu gern.
Doch in fast allen anderen Dingen waren Paul und sie ehrlich miteinander. Um so verletzender war es jetzt für sie, ihn auf den Tisch starren zu sehen, weil sie sich nun fragen mußte, wann er aufgehört hatte, ganz aufrichtig
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