Roter Engel
die Gurte festzuzurren?«
Beide Schwestern schwiegen und starrten auf die Tischplatte.
»Dr. Harper?« sagte Beckett. »Sie sagten, Sie haben Mr. Slotkin als letzte gesehen. Waren die Gurte fest angezogen?«
Sie schluckte. »Ich weiß nicht.«
Paul sah sie an und runzelte die Stirn. »Du sagtest, sie wären es gewesen.«
»Ich
nahm
an, daß sie das waren. Ich meine, ich glaube, ich habe sie selbst angezogen. Aber es war soviel los in dieser Nacht. Und jetzt – bin ich nicht mehr so sicher. Denn wenn er festgebunden war, dann kann er sich unmöglich selbst befreit haben und geflohen sein.«
»Zumindest da sind wir also ehrlich«, sagte Carey.
»Ich habe es
immer
mit der Wahrheit!« schoß sie zurück. »Und wenn ich Pfusch mache, dann gebe ich es wenigstens zu.«
Paul fiel ihr ins Wort. »Toby …«
»Manchmal haben wir ein halbes Dutzend Notfälle gleichzeitig. Wir können uns nicht an jede Einzelheit erinnern, wenn etwas schiefgeht im Laufe einer Schicht.«
»Sehen Sie, Paul?« sagte Carey. »Genau davon rede ich. Dauernd höre ich solche Entschuldigungen. Und
immer
ist es die Nachtschicht.«
»Anscheinend sind Sie aber der einzige, der sich darüber beklagt«, sagte Paul.
»Ich kann Ihnen ein halbes Dutzend anderer Ärzte nennen, die auch ihre Probleme gehabt haben. Zu jeder Nachtzeit werden wir angerufen, wir sollen Patienten aufnehmen, die gar nicht aufgenommen werden müssen. So etwas muß man eben beurteilen können.«
»Auf welche Patienten beziehen Sie sich da?« fragte Toby.
»Die Namen habe ich mir für dieses Gespräch nicht extra notiert.«
»Dann besorgen Sie sie. Wenn Sie meine Fähigkeit, Diagnosen zu stellen, anzweifeln, dann will ich Genaues hören.«
Corcoran seufzte. »Wir kommen vom Thema ab.«
»Nein, das
ist
hier das Thema«, sagte Carey. »Es geht um die Kompetenz von Pauls Notaufnahmeteam. Wissen Sie denn, was in dieser Nacht in der Notaufnahme wirklich los war? Sie haben eine gottverdammte Geburtstagsparty gefeiert! Ich bin in den Aufenthaltsraum gegangen, um mir eine Tasse Kaffee zu holen, und da hingen überall die Luftschlangen herum! Auf dem Tisch stand Torte, und daneben lagen jede Menge abgebrannter Kerzen.
Das
war es wohl eher, was passiert ist. Sie waren alle so beschäftigt mit ihrer Feier, daß es ihnen egal war, was …«
»Das ist doch der absolute
Schwachsinn
«
,
sagte Toby.
»Es
war
doch eine Party, oder?« sagte Carey.
»Ja, aber die hatte früher stattgefunden. Sie hat uns keineswegs von unserer Arbeit abgehalten, als dieser Tamponaden-Fall hereinkam. Da waren wir alle gleich voll zur Stelle. Die Frau erforderte unsere ganze Aufmerksamkeit und hat sie auch bekommen.«
»Und ist Ihnen unter den Händen gestorben«, sagte Carey.
Seine Bemerkung traf sie wie ein Schlag, und sie lief rot an. Das Schlimmste daran war, daß er recht hatte. Sie
hatte
diese Patientin verloren. Ihre Schicht
hatte
mit einer Katastrophe geendet – und einer sehr öffentlichen. Neue Patienten waren ins Wartezimmer gekommen und durften sich die wütenden Kommentare von Mr. Slotkins Sohn anhören. Dann hatte eine Ambulanz diesen Patienten mit Brustschmerzen eingeliefert, und die Polizei war gekommen – zwei Streifenwagen, die sie gerufen hatten, um einen vermißten Patienten zu suchen. Das oberste Gesetz, das für Ärzte wie sie galt, war außer Kraft gewesen, als Tobys penibel geführte Notaufnahme im allgemeinen Chaos versunken war.
Sie beugte sich vor, preßte die Hände auf die Tischplatte und richtete den Blick nicht auf Carey, sondern auf Paul. »Wir waren gar nicht darauf eingerichtet, eine Tamponade zu legen. Die Patientin gehörte in ein Traumazentrum. Wir haben sie am Leben erhalten, solange wir konnten. Ich bezweifle sogar, ob unser wunderbarer Dr. Carey sie hätte retten können.«
»Sie haben mich viel zu spät herangezogen, um noch irgend etwas tun zu können«, sagte Carey.
»Wir haben Sie in dem Augenblick angerufen, in dem wir wußten, sie braucht eine Tamponade.«
»Und wie lange haben Sie gebraucht, bis Sie das merkten?«
»Wenige Minuten nach ihrer Einlieferung.«
»Laut Protokoll der Ambulanz wurde die Patientin um fünf Uhr zwanzig eingeliefert. Gerufen haben Sie mich erst um fünf Uhr fünfundvierzig.«
»Nein, wir haben Sie früher angerufen.« Sie sah Maudeen und Val an, die zustimmend nickten.
»Davon steht nichts im Notaufnahmeprotokoll«, sagte Dr. Carey.
»Wer hatte denn die Zeit, noch irgendwelche Notizen zu machen? Wir haben rotiert, um ein
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