Roter Herbst - Kriminalroman
Schreibtischkante und studierte die Fotos, die die Spurensicherung am Fundort der Leiche gemacht hatte.
»Die Moorleiche, Boss.«
Amanda legte die Fotos aus der Hand und griff nach dem Ausdruck, den Varga ihr, mit stolz geschwellter Brust und einem etwas dümmlichen Grinsen, hingeschmettert hatte. Sie dreht das Bild mehrere Male, bis sie etwas erkennen konnte. Die grobkörnige Aufnahme zeigte in der Tat das Gesicht des Mannes, den sie vor wenigen Tagen draußen im Moor gefunden hatten. Ein Gesicht unter mehreren, von einer Überwachungskamera aufgenommen. Es gab keinen Zweifel, dass es sich um den Unbekannten handelte.
»Woher hast du das?«
Varga grinste. »Vom Flughafen. Die Kollegen von der Flughafenpolizei waren so freundlich. Wir haben die Bänder der letzten Woche gecheckt und – Bingo!«
»Wann wurde die Aufnahme gemacht? Weißt du das Datum?«
»Klar. Am Aschermittwoch um 14.31 Uhr. Das sind die Passagiere von Flug LH 747.«
Amanda blickte ihn erstaunt an, bis Varga auf eine Zahlenreihe unter der Aufnahme deutete.
»Dann kann man also genau sagen, woher der Mann gekommen ist, oder?«
Varga nickte. »Flug LH 747 war ein Direktflug aus Seattle. Keine Zwischenlandung. Unser Mann muss also in Seattle zugestiegen sein.«
»Seattle? Seattle … Ist das nicht irgendwo im Nordwesten der USA?«, fragte Amanda.
»Ja. Ganz oben, am Pazifik. An der Grenze zu Kanada.«
Amanda Wouters besah sich noch einmal den Computerausdruck. Das Bild war nicht besonders scharf, aber sie sah zum ersten Mal die Augen des Mannes. Er hatte wohl einen Moment lang direkt in die Kamera geblickt. Als sie seine Leiche einige Tage später gefunden hatten, waren diese Augen nicht mehr vorhanden gewesen.
»Na, das ging aber schnell«, sagte sie. Wie es schien, waren sie tatsächlich einen entscheidenden Schritt vorangekommen.
»Habt ihr auch schon eine Passagierliste?«
»Na klar, Boss. Ist schon auf Ihrem PC.«
Amanda drehte sich um und setzte sich vor ihren PC. »Gute Arbeit, Varga. Aber lass endlich das dämliche Bossgeschwätz!«
Varga grinste. »Ist okay, …« Das letzte Wort ließ er in der Luft hängen.
Zwei, drei Klicks und Amanda hatte die Liste vor sich auf dem Schirm. 267 Namen von Männern, Frauen und Kindern. Alphabetisch geordnet.
»Welcher davon ist der unsere?«
»Nummer 183. Aaron Rosenberg.«
»Wohnort?«
»Tacoma, Washington.«
»Hast du eine Ahnung, wo das liegt?«
»Auch da drüben, südlich von Seattle«, sagte Varga. »Ganz in der Nähe.«
»Hm.« Amanda verfiel ins Grübeln. Anscheinend hatte Paula, Mannteufels Assistentin, recht gehabt. Der Mann war aus den Staaten gekommen. Dazu hatten sie sogar einen Namen. Das konnte der Durchbruch bei ihren Ermittlungen sein. Bislang hatten sie nur im Nebel gestochert, hatten nicht so recht gewusst, wo sie anfangen sollten. In 99 von 100 Fällen war der Name des Mordopfers bekannt. Im Fall der Moorleiche lag dies anders. Wie es aber schien, bewegten sie sich nun auf sicherem Terrain. Andererseits, was bedeutete das schon? Der Mann aus dem Moor hatte einen Namen bekommen und einen Herkunftsort. Mehr nicht. Das erste beglückende Gefühl, einen entscheidenden Schritt weitergekommen zu sein, verflog schnell. Die eigentliche Arbeit blieb noch zu tun. Sie seufzte verhalten. Das Ganze ging zu einfach, zu glatt. Eine dumpfe Ahnung sagte ihr, dass sie sich trotz allem erst am Anfang eines langen Ermittlungsweges befanden.
Sie blickte auf Varga, der noch immer in ihrem Büro stand. Wie verdammt jung er war. Auch sie hatte vor vielen Jahren eine ähnliche Begeisterung verspürt, wenn sie sich in ihre Arbeit gestürzt hatte, wenn sich Erfolge eingestellt hatten. In der Zwischenzeit war der Lack ein wenig ab. Das galt auch für die anderen Polizisten ihres Teams, schoss es ihr durch den Kopf. Fiedler. Nowak. Wolf. Das waren schnell alternde Männer in ihren 30ern oder 40ern. Männer, die sich in ihren öden Bürozimmern die Hintern platt saßen, die Jacketts über ihre Schreibtischstühle gehängt, mit aufgerollten Hemdsärmeln, Krawatten auf halb acht. Männer mit gescheiterten Beziehungen oder zumindest solchen, die kurz davor standen, in die Brüche zu gehen. Oder alleinstehend, wie sie … Es war wohl müßig, darüber nachzudenken.
»Gut, dann schickt eine Anfrage an Interpol und an die Polizeibehörde in Seattle«, wies sie Varga an. »Wir brauchen alles, was sie über den Mann wissen. Vielleicht finden die etwas über ihn. Wer er war … Ich
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