Roter Herbst - Kriminalroman
vor Jahrzehnten die Rekruten gepfercht hatte: Alle Zimmer waren versperrt. Gerade als er gehen wollte, hörte er ein leises Winseln, das aus einer Nische am Ende des Korridors kam. Als er näher trat, bemerkte er Sandor, der ihn mit vorwurfsvollen Augen ansah. Er war zu Bichlmaiers Verwunderung angeleint und zog die Leine hinter sich her, so als wäre er seinem Herrchen entwischt. In der Schlaufe hatten sich Büschel von Moorgras verfangen.
Bichlmaier beugte sich zu Sandor hinunter und streichelte ihn. Er wollte die Leine greifen, aber ehe er sie fassen konnte, entwischte ihm der Hund. Er sah nur noch, wie er um eine Ecke des Korridors verschwand. Ratlos richtete er sich auf. Etwas stimmte nicht.
Es war wohl an der Zeit, sich mit seiner Kollegin vom Morddezernat in Verbindung zu setzen.
Zweites Buch
»Das, was wir bös’ nennen, ist nur die andere Seite vom Guten, die so notwendig zu seiner Existenz und in das Ganze gehört, als Zona torrida brennen und Lappland einfrieren muß, daß es einen gemäßigten Himmelsstrich gebe.«
J. W. Goethe
15
Rune träumte, dass er tiefer und tiefer sank.
Schichten braunen Lichts von wechselnder Intensität umhüllten ihn, glitten an ihm vorüber, und er fühlte sich warm und geborgen, von wunderbar körperloser Leichtigkeit. Es kam ihm vor, als sei er Teil einer Welt von unbeschreiblicher Schönheit geworden, einer Welt, in der alles weich und gut war. Dabei brauchte er nicht einmal nachzudenken, wo er sich befand. Er wusste, dass er in einen der brodelnden Teiche des Moores eingetaucht war, von denen die Geschichten seiner Kindheit gehandelt hatten.
Er lächelte, als er mit einem Mal das Gesicht seiner Mutter sah, die ihn mit großem Ernst anblickte und ihm zunickte, sogleich aber wieder verschwand. Andere Gesichter traten an ihre Stelle, um, sobald er sie wahrgenommen hatte, wie Wasserblasen zu zerspringen. Im Traum war es selbstverständlich, dass sie da waren und an ihm vorüberhuschten. Gesichter seines Lebens.
Irgendwo in diesem Traum musste es auch sein kleines Mädchen geben. Er wusste, dass er nur weiter hinabgleiten musste, um zu ihr zu gelangen. Weiter und weiter hinunter, tiefer und tiefer … Wenn er sich nur an ihren Namen erinnern könnte. Eine leichte Unruhe erfasste ihn.
Plötzlich spürte er, wie es um ihn herum kälter wurde und die Helligkeit des Lichts an Glanz verlor. Trübes Moorwasser hemmte seine Bewegung und er musste sich anstrengen, um etwas erkennen zu können. Ein Brausen und Sausen füllte dabei sein Ohr, das wohl von den unermesslichen Wassermassen herrührte. Er fühlte Nässe auf seinem Gesicht und wusste, dass es seine Tränen waren, die er nicht zurückhalten konnte.
Ratlos tastete er mit den Händen umher. Einen Augenblick kam er sich vor wie ein Ertrinkender – da sah er vor sich in geringer Entfernung ein Bündel, das im Wasser zu schweben schien, darin etwas Schlaffes, Blutiges, Bleiches …
16
Adolf Bichlmaier blieb noch eine ganze Weile im Auto sitzen. Mit einem Mal hatte er keine Lust mehr, auszusteigen. Das seltsame und höchst seltene Gefühl von Geborgenheit, das er in dem alten Gefährt empfand, hielt ihn vorerst davon ab. Ohnehin war er viel zu früh zum vereinbarten Treffpunkt gekommen.
Er hatte den Motor abgestellt, aber die Musik laufen lassen, und lauschte den Klängen, die aus den klapprigen Lautsprechern drangen und ihn wie immer, wenn er sich Songs seiner Jugend anhörte, ein bisschen melancholisch stimmten. Die Scheiben klirrten, wenn die Bässe dröhnten, und aus unerfindlichen Gründen musste Bichlmaier auf einmal an unbekannte griechische Inseln und endlose kanadische Wälder denken, Plätze, die er mit eigenen Augen nie gesehen hatte – niemals sehen würde.
›Now so long, Marianne, it’s time that we began to laugh and cry …‹
Als das Lied zu Ende war, stieg er dann doch aus und schlenderte die wenigen Meter vom Parkplatz zum Lokal. Er blickte dabei mehrmals auf die Uhr. Er war tatsächlich viel zu früh dran.
Das Restaurant war menschenleer, und er kam sich sofort fehl am Platz vor. Trotzdem suchte er sich einen Tisch in einer der hinteren Ecken des Raumes und ließ sich im Halbdunkel nieder. Der Wirt war klein und rundlich und erinnerte ihn an den alten Kubitza, seinen ehemaligen Mathematiklehrer am Gymnasium. Er hatte den Mann, der ein Zyniker gewesen war und die Schüler mit seinen leeren Formeln drangsaliert hatte, während der gesamten Schulzeit gehasst. Irgendwann aber, nachdem er
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