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Roter Herbst - Kriminalroman

Roter Herbst - Kriminalroman

Titel: Roter Herbst - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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lernen. Das Gehen, das Sprechen, meine Arme und Hände zu bewegen … Das hat Jahre gedauert. Und vor allem musste ich meine Angst besiegen … Eigentlich war das das Schlimmste.«
    »Und hast du noch Schmerzen?«
    »Ja, ich habe Schmerzen. Es vergeht kein Tag, an dem ich keine habe. Aber so unwahrscheinlich es klingt, man gewöhnt sich daran. Und dann habe ich ja auch noch meine Tabletten.«
    Bichlmaier blickte sie an und er sah die Qualen, die sich in ihre Züge gebrannt und in ihr Herz gefressen hatten. »Und deine Angst?«
    »Die wird wohl nie ganz vergehen.« Sie schwieg, trank von ihrem Kaffee. »Und du …? Ich habe immer auf dich gewartet. Aber du bist nicht gekommen. Warum, Adolf? Wo warst du?«
    Das war die Frage, vor der er sich all die Jahre gefürchtet hatte. »Lass es uns einfach vergessen«, wollte er sagen. »Ich erkläre es dir, wenn ich es selbst verstanden habe.« Aber er wusste, dass er wohl nie eine rechte Antwort finden würde.
    Er lehnte sich zurück, faltete die Hände hinter seinem Kopf und plötzlich sah er alles wieder vor sich, fühlte und roch, was vor langer Zeit gewesen war. Das warme Gras zwischen den Bäumen, das ganz leicht dampfte und so ungemein süß und kräftig duftete, das auf der nackten Haut seiner Schenkel geklebt und schrecklich gejuckt hatte. Das Flimmern der Luft. Die schrillen Schreie der Vögel, das hektische Zirpen der Insekten und das dumpfe Rauschen der Baumwipfel, die den Himmel über ihm verdeckt hatten.
    Und dann sah er sich selbst, wie er tölpelhaft dastand mit seinen herunterhängenden Hosen und seinem tropfenden, geschwollenen Glied, unfähig zu verstehen, warum das Mädchen gerade in diesem Augenblick des Triumphes vor ihm davonlief …
    Das Dröhnen des schweren Motors hatte wohl schon länger die Stille durchdrungen, doch hatte er den Wagen, einen riesigen amerikanischen Truck, erst wahrgenommen, als der in einer winzigen Sekunde den Körper des Mädchens hochgewirbelt und für immer gebrochen hatte.
    »Warum bist du damals nur weggelaufen?«, fragte er, ohne sich des Vorwurfs in seiner Stimme bewusst zu sein. Doch die Frau schien ohnehin nichts davon zu bemerken.
    »Ich weiß nicht. Ich kann mich an nichts mehr erinnern … Alles, was unmittelbar vor dem Unfall war, ist weg, gelöscht aus meiner Erinnerung. Aber als ich damals im Krankenhaus aufgewacht bin, habe ich auf dich gewartet. Daran kann ich mich erinnern. Aber du bist nicht gekommen.«
    Bichlmaier nickte.
    Und wieder war es, als würde er einen völlig Fremden beobachten. Einen Jungen, der im Gras kauert und nicht begreifen kann, was gerade passiert ist. Er sieht, wie der Junge die Hände an den Kopf presst, sich die Ohren zuhält, um das schreckliche Kreischen der Bremsen nicht mehr wahrzunehmen. Seine Augen sind weit aufgerissen und er verfolgt, wie der Truck zitternd und schaukelnd zum Stehen kommt, sich die Tür öffnet und ein riesiger schwarzer Mann aussteigt. Noch ehe dieser sich zu dem Körper des Mädchens hinabbeugt, bleibt er einen Moment aufgerichtet stehen und blickt in die Richtung, aus der das Mädchen gekommen ist. Aus seinem Versteck heraus sieht der Junge das Gesicht des Mannes, durch das sich eine furchterregende Narbe zieht, die es in zwei völlig ungleiche Hälften teilt. Da erhebt er sich und beginnt zu laufen. Und er läuft und läuft, ohne zu ahnen, dass er nie mehr irgendwo ankommen wird.

    Ihre Eltern hatten ihr den Namen Rosemarie gegeben, aber weil die Herzen der Deutschen in den frühen und mittleren 50ern einer Schauspielerin mit dem Namen Romy zuflogen, wurde auch sie nur Romy genannt. Eine Märchenprinzessin sollte sie wohl sein.
    »Ich habe den Mann wiedergesehen, der damals den Truck gefahren hat«, sagte Bichlmaier, nachdem sie mit Kaffeetrinken fertig waren.
    »Du kennst ihn?«
    Bichlmaier nickte. »Er ist eine Art Polizist, der an der Aufklärung eines Mordes beteiligt ist, der sich vor Kurzem hier ereignet hat. Vielleicht hast du davon gehört.«
    »Natürlich. Der Mann aus dem Moor. Eine schreckliche Sache.«
    »Ich war dabei, als man die Leiche fand. Ein blöder Zufall … Aber aus irgendeinem Grund kann ich das Gesicht des Toten nicht mehr vergessen. Vielleicht jemand, den auch wir damals gekannt haben.«
    Romy nickte. »Gut möglich«, meinte sie. Sie schien sich über die Zufälligkeiten des Lebens nicht zu wundern. Alles war vorstellbar. Und vielleicht gab es ja Zusammenhänge, die die Menschen in ihrer täglichen Hast gar nicht erkannten. Eine

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