Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Roter Regen

Titel: Roter Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moritz
Vom Netzwerk:
etwas daran, der besagte, dass nur der
Kämpfer überleben würde, der auch den Tod akzeptierte?
    Die Gänge des Sauerbruch-Krankenhauses erinnerten in nichts an den
überlaufenen Saustall in Kabul, in den Rohina damals gebracht worden war. Hätte
sie hier vielleicht eine Chance gehabt? Aber hier explodierten nicht an jeder
Straßenecke Bomben. Hier starb man an Herzinfarkt oder Alzheimer,
Wohlstandskrankheiten, die sich der Tod angezogen hatte, damit der zivilisierte
Mensch des Abendlandes nicht ewig lebte. Über Killians Lippen zog sich ein
Lächeln. Warum wollten die Menschen ihren Tod nicht einfach akzeptieren? Was
lag ihnen daran, ewig zu leben? War es nicht sinnvoller, fünfzig Jahre
glücklich aus dem Leben zu schöpfen, als hundert Jahre missgünstig und
unglücklich zu leiden? War Leben nicht viel mehr eine Frage der Qualität als
der Quantität?
    Die Polizisten, die vor Margits Zimmer Wache schoben, kannten
Killian. Sie waren es gewesen, die ihn im Januar festgenommen hatten, als auch
er unter Mordverdacht gestanden hatte. Das Missverständnis und die guten
Kontakte, die Killian zum BKA besaß, hatten sich rasch herumgesprochen, und so nickten die Beamten nur
wortlos, als er sich jetzt anschickte, das Krankenzimmer zu betreten.
    In Margits Augen spiegelte sich das Laub der Birke, die vor dem
Fenster stand. Killian mochte Birken, sie hatten etwas Beruhigendes und Weises
in ihren grazilen und reduzierten Bewegungen. Er schob einen Stuhl ans Bett und
setzte sich.
    Margit bewegte ihre Lippen und wollte sprechen, aber ihr Mund war
ausgetrocknet. Killian begriff und reichte ihr ein Glas Wasser, von dem sie
vorsichtig trank.
    »Belledin würde mich nie kriegen«, flüsterte sie zwischen zwei
Schlucken.
    »Ich weiß.«
    »Kluge Aborigines machen keinen Fehler ein zweites Mal«, flüsterte
sie weiter und merkte, wie gut es ihr tat, so zu reden. Es weckte ihren
Kampfgeist, und sie lächelte.
    Killian nickte, und er ahnte, dass er Margits Unschuld schnell
beweisen musste. Denn sobald sie wieder gehen konnte, würde sie versuchen zu
türmen.
    »Ich weiß, was du denkst.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Aber
vielleicht ist der Frauenknast ja auch ein Paradies für mich? Vielleicht darf
ich in Gefangenschaft frei sein?« Sie hustete während des Lachens. »Ich werde
noch zur Dichterin, merkst du das?«
    »Du warst schon immer eine. Wer in die Enge getrieben ist, dem
bleibt nur die Poesie«, versuchte Killian zu scherzen.
    »Du musst es wissen.« Margit merkte, dass die Konversation nun doch
anstrengend wurde, und schob ihre Hand unter der Bettdecke hervor. Killian
griff sie und streichelte mit seiner Daumenkuppe über die blau schimmernden
Venen. Dann schob er sie wieder unter die Bettdecke und verließ das Zimmer.
    * * *
    Belledin jagte über den Zubringer nach Freiburg. Anke Prückner
wohnte in der Wiehre, einem schmucken Viertel, dessen Villen der Zweite
Weltkrieg weitgehend verschont hatte. Mittlerweile lebten dort gut situierte,
ökologisch bewusste Familien mit einem Hang zur Anthroposophie. So erzählten es
wenigstens die Leute. Belledin scherte sich um solche Wohnklischees kaum,
obwohl gerade er ein genaues soziodemographisches Wissen über die einzelnen
Stadtteile Freiburgs besitzen müsste. Er hatte es bislang aber abgelehnt, sich
mit den jährlichen Zahlen zu befassen, die ihm von den Statistikern zugesandt
wurden. Es lag nicht daran, dass er zu faul gewesen wäre, die Statistiken für
sich auszuwerten; nein, er traute ihnen nicht. Hinter jeder Statistik lauerte
ein Fallstrick. Für Belledin war das Gesamte stets mehr als die bloße Summe der
Teile. Statistiken ignorierten die Ausnahmen. Und Belledin war dafür da, Ausnahmen
aufzuspüren.
    Freiburg-Wiehre also, in der Schumannstraße 11, dort wohnte Anke
Prückner. In einer Einbahnstraße. Belledin musste von der anderen Seite
einfahren, das würde ihn wieder zwei Minuten kosten. Anke hatte sehr ängstlich
gewirkt, als sie ihm am Telefon von der Drohung erzählt hatte, die ein
Unbekannter ihr per SMS geschickt
hatte.
    Belledin parkte den Wagen und eilte zur Villa, an deren Front eine
alte gusseiserne 11 prangte. Er klingelte und drückte das geschmiedete Eisentor
auf, als es summte. Der Kies knirschte unter seinen schnellen Schritten. Hinter
dem Vorhang des Erdgeschosses lugte die verschreckte Anke Prückner hervor. Sie
verschwand, um ihm gleich darauf mit erneutem Summen auch die Haustür zu
öffnen.
    Belledin nahm zwei der mit Lein geölten Lärchenstufen

Weitere Kostenlose Bücher