Roter Regen
Sie so etwas? Ich weiß es wirklich nicht.«
»Nein, keine Formeln. Vielleicht eine Liste mit Namen oder
Telefonnummern von Leuten, die in das Projekt investiert haben. Vielleicht will
einer der Spender unerkannt bleiben, weil er etwas zu verbergen hat.«
Anke schüttelte den Kopf und stellte ihre Kaffeetasse auf den Boden.
Dann schloss sie die Augen und zwang sich zur Konzentration, indem sie die
Zeigefingerkuppen an die Nasenwurzel drückte. Nach einer Weile blickte sie hoch
und sah Belledin mit großen Augen an, in denen er beinahe verschollen wäre,
hätte ihre Stimme nicht kühl und scharf entgegengesetzt gearbeitet.
»Ich habe Hartmann einmal gefragt, ob er nicht Angst hätte, dass das
ganze gesammelte Geld, das er nach Rumänien schickte, plötzlich verschwinden
könnte.«
»Und? Was hat er geantwortet?«
»Er hat gelacht. So schlau wie die zahnlosen Erben Draculas sei er
schon lange. Er hätte die entscheidenden Namen samt Vertragsunterzeichnungen
immer bei sich. Und wenn diese Leute mit ihm den Affen machen wollten, so
sollten sie es nur versuchen.«
Belledin schwieg. Ihm war unwohl. Der Fall schien sich wieder größer
auszuwachsen, als er es sich gewünscht hatte. Er sah, wie ihm seine Mörderin
Margit wieder aus den Fingern glitt. Am Ende hatte die rumänische Mafia
Hartmann ermordet. Und wenn Dr. Merz auch etwas mit der Regenmaschine zu tun
gehabt hatte, dann wären die drei Morde doch wieder in eine Linie zu bringen. Aber
was hatte dann Margit mit der Tatwaffe in dem Spiel zu suchen? Plötzlich war
wieder alles offen.
»Wo könnte diese Liste sein? Wir haben sowohl Hartmanns Praxis als
auch seine Wohnung nach allen möglichen Spuren durchsucht. Wenn unseren Leuten
Listen mit rumänischen Namen begegnet wären, hätten sie aufgehorcht, und es
wäre auf meinem Schreibtisch gelandet.«
»Tut mir leid, ich weiß es nicht. Ich habe nur Angst, dass ich die
Nächste bin, die sterben soll.«
Anke blickte Belledin hilflos an; dessen Beschützerinstinkt schwoll
bis in die Halsschlagadern, und er raffte sich aus dem überraschend bequemen
Möbelstück auf, um Anke für einen Moment in den Arm zu nehmen.
* * *
Paolo Conte oder Nino Rota? Bärbel entschied sich für den
Filmmusiker Fellinis und schob die Scheibe in die Anlage. Sie drehte laut,
damit sie die Musik in der ganzen Wohnung hören konnte. Sie wollte aufräumen,
entrümpeln, putzen – sie brauchte Ordnung, außen wie innen. Die ersten Takte
von »Amacord« erklangen, und Bärbel fühlte sich gleich beschwingter. Auch wenn
sie gerade aus der Toskana und nicht aus dem Rimini der sechziger Jahre
zurückgekehrt war, ähnelte das Gefühl, das die Musik in ihr auslöste, der
Losgelöstheit, die sie während der zwei Seminarwochen im Herzen Italiens erlebt
hatte. Aber Nino Rota wäre nicht er selbst gewesen, wenn die Beschwingtheit
nicht plötzlich in melodramatische Klänge gestürzt wäre. Nagende Cellos und
scheinbar die falschen Töne treffende Bläsersätze öffneten die dunklen Fenster
der Szenerie. Bärbel eilte zur Anlage und stellte die Musik ab. Wieso fing es
so heiter an und musste dann so düster enden?
Sie warf erst den Staublappen, dann sich selbst genervt auf das
Sofa, das den Mittelpunkt des von Büchern überladenen Wohnzimmers bildete und
ebenfalls von Folianten und Bildbänden überquoll. Bärbel schaufelte sich Platz,
sodass sie ihre Beine hochziehen konnte, und starrte die Bücherwände an. Die
ganze Welt starrte auf sie zurück.
Die Regale waren in Sparten unterteilt, aber in letzter Zeit war die
Sortierung durcheinandergekommen. Bei den Naturwissenschaften hatten sich
Gedichtbände eingeschlichen, bei den klassischen Dramatikern nisteten Ratgeber
über das richtige Laufen, und auf dem Boden vor den Regalen türmten sich
antiquarische Schätzchen neben folienverschweißten Neulingen.
Bärbel seufzte. Es wäre ein Jahreswerk, hier Ordnung zu schaffen.
Aber warum nicht? Der äußere Raum spiegelte die Innenwelt eines Menschen, hatte
sie von Hartmann gelernt. Erst hatte sie nichts davon gehalten, aber er hatte
sie überzeugen können, dass dem so war. Aber wo setzte man an? Im eigenen
Inneren oder doch im Äußeren? Und wer half einem dabei? Wo waren die Freunde,
wenn man sie brauchte? Killian war ein Arschloch, er dachte nur an sich und
seine Wahrheit. Er war unfähig, tatsächlich auf andere Menschen einzugehen.
Dass ausgerechnet dieser Holzbock Swinthas Vater sein musste, war ungerecht.
Warum war es nicht Hartmann? Der war
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