Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Roter Staub

Roter Staub

Titel: Roter Staub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul J. McAuley
Vom Netzwerk:
Zukunft befreien
konnte.
    Die Hälfte des Films fehlte, die Hälfte des Rests war
fleckig und überwaschen von Schneeschauern von Statik – Lee
bevorzugte die Originale gegenüber erweiterten Neufassungen,
echte Handlungssprünge gegenüber falschen
Ersatzstücken –, und gegen Ende flackerte das Display und
verlor allmählich an Schärfe, als sich die Batterien des
Abspielgeräts erschöpften. Dennoch konnte Lee nicht
schlafen. Ruhelos legte er seine Schutzbrille an und versuchte den
Bibliothekar zu finden, der nach Lees Bestrafung durch das
Sonderkomitee verlorengegangen war. Gestrichen vielleicht durch
denselben Richterspruch, obgleich die metaphorische Schnittstelle,
die er um sich herum gebunden hatte, verblieben war. Staubige
Bücher türmten sich in die Dunkelheit, verrottende Teppiche
lagen unter den Füßen. Ein Fenster, umrahmt von
Büchern, blickte auf eine sternenübersäte Leere,
erfüllt mit Wind. Einer der Sterne schwang sich zu Lee herum und
erblühte zu einem brennenden Vogel mit dem Gesicht einer
Frau.
    Ruckartig wurde er wach. Er war eingeschlafen, und die
Schutzbrille war ihm vom Gesicht gerutscht.
    Gefangen zwischen Guoquiangs Falle und der Rache von Guoquiangs
Vater lag Lee die restliche Nacht über wach da und fragte sich,
ob er Weiterreisen oder zur großen und schrecklichen Hauptstadt
des Mars zurückkehren und Sklave seines Urgroßvaters
werden sollte. Aber am nächsten Tag holte ihn sein Schicksal
ein, und er wurde davongeweht, Staub auf dem Wind der Geschichte.

 
     

----
8
     

----
     
     
    Die Friedhofsschicht hatte ihren eigenen Tisch im bevölkerten
Speisesaal, der von den Wartungsarbeitern des Danwei benutzt
wurde. Aber selbst die Pfleger der Halblebenden mieden ein
Gespräch mit Wei Lee. Schande fing man sich leicht ein. Allein
an einem Ende des langen Tischs aß Lee rasch, schaufelte
schmierige Nudeln und Gemüsepfannkuchen mit tief über seine
Schüssel gesenktem Kopf in sich hinein. Ringsumher ertönte
Geplauder, zumeist über die Halblebenden, die in jener Schicht
gestorben waren, ehe sie völlig in den Himmel übergegangen
waren. Lee hatte gesehen, wie das passiert war, der bleiche
ausgemergelte Körper, der jäh wie eine fallengelassene
Marionette schief auf seinem Sofa zuckte, während um ihn herum
Hunderte von anderen weiterhin ihre verdrahteten Gliedmaßen
unter der Anleitung des Übungsprogramms bewegten. Ein schlechtes
Omen, war die abschließende Meinung, und ein oder zwei Pfleger
machten Lee gegenüber Zeichen, um Böses abzuwehren, so, als
sei er schuld.
    Lee bemerkte es nicht. Der ›King of the Cats‹
flüsterte ihm krächzend ins Ohr, brachte ihn auf einigen
Abstand zu allen anderen im Speisesaal. Er hatte den ganzen Tag
über zugehört. Das Radio war auf Schicht nicht wirklich
gestattet, aber niemand wagte es, eine Stimme zu heben, um es zu
verbieten, weil sie das in den Kreis des schwarzen Lichts von Lees
Verfehlung gebracht hätte.
    Der King schlief niemals. Er war stets dort, schwatzte einen
Sermon oder wühlte durch die Popkultur Amerikas aus der Mitte
des zwanzigsten Jahrhunderts. Lee kratzte sein Tablett zu dem
rockigen Beat von Carl Perkins ›Dixie Fried‹ in den
Abfalleimer ab, als etwas Seltsames geschah. Ein Soldat stieß
in der Menge um die Recycling-Abfalleimer gegen ihn, und er
spürte, wie ihm etwas in die Hand gedrückt wurde.
    Es war ein Fetzen Papier. Den ganzen Weg zurück zu der hell
erleuchteten Einsamkeit seines Zimmers brannte es in Lees Hand. Dort
endlich getraute er sich, es anzusehen. Eine kurze Nachricht, die ihm
sagte, er solle um zwanzig Uhr an den Transport-Teich-Ställen
sein. Bis dahin waren es noch zehn Minuten, und er sollte Guoquiang
zur selben Zeit treffen. Lee traf seine Entscheidung und lief zur
Tür. Schließlich war das die Art von impulsiver Tat, die
der King begangen hätte.
     
    Die Ställe funktionierten nach dem Tageszyklus des Mars. Ihre
hohen Lichtergestelle wurden zu einem gelben Zwielicht
abgedämpft, als Lee mit rasch zunehmender Nervosität an den
Boxen mit Stahlbeschlägen vorüberging, in denen Zelter,
Genettes und Alboraks standen und über verlorene Horizonte
nachsannen oder an ihren Futtertrögen kauten.
    In einer Box stand ein feuriges, stahlbeschlagenes
Schlachtroß, eher große Katze als Pferd. Es ging mit
zurückgehaltener Wut in seiner Box umher, und der gepanzerte
Widerrist glitzerte. Es war das Reittier eines der Offiziere der
Sprachrohr-des-Volkes-Armee.
    Lee blieb stehen, um es anzuschauen,

Weitere Kostenlose Bücher