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Roter Staub

Roter Staub

Titel: Roter Staub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul J. McAuley
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deine Gedanken nicht lesen, aber ich
verstehe deine Muskeln. Jede ist ein Satz, und also analysiere ich
deine Haltung auf ihre Bedeutung.«
    Lees Mund war trocken. Er rieb die Zunge gegen die obere
Zahnreihe, um den Speichelfluß zu stimulieren, und sagte:
»Mein ganzes Leben lang habe ich dir gedient,
Urgroßvater.«
    Es war lediglich eine Höflichkeitsfloskel, aber es traf Lee,
daß sie stimmte, obgleich solche Floskeln gewöhnlich nicht
stimmten.
    Das Lächeln des Phantombilds war echt, wie das einer Frau,
nicht das Neu-Arrangieren jener kleinen Muskeln um den Mund, das die
meisten Männer im Glauben benutzen, sie lächelten.
»Ich hatte stets gehofft, daß du die Flexibilität der
Intelligenz behältst, Wei Lee. Ich bin entzückt davon,
daß es so ist.«
    »Ich diene dir jetzt wie immer.«
    »Wie ich dies hoffe. Du bist weit gewandert, aber ich habe
schließlich eine Aufgabe für dich, Wei Lee. Ja, sie
betrifft die Anarchisten-Pilotin.«
    Lee seufzte. Sein ganzes Leben als Erwachsener hatte er darauf
gewartet, daß die Schuld gegenüber seinem
Urgroßvater eingefordert würde. Er hatte gewußt,
daß es eines Tages soweit käme, hatte jedoch nicht
erwartet, daß es an einem so prosaischen Ort geschähe wie
im Stall eines kleinen Danwei in einer weit entfernten
Provinz. Er fragte: »Was muß ich tun?«
    »Es ist alles für dich arrangiert. Es ist keine schwere
Aufgabe für jemanden, der während der vergangenen beiden
Jahre in dem einen oder anderen Wüsten-Danwei gelebt hat.
Du wirst die Himmelsstraßen-Anarchistin mitnehmen und sie
jenseits der äußeren Umgrenzung verstecken und dann mit
einer Friedenstaube Kontakt aufnehmen, sobald der Sturm
nachläßt. Du kannst die Hauptstraße hinaus benutzen.
Niemand wird sie in diesem Sturm bewachen, und sie ist gut markiert.
Zwei Kilometer südöstlich des Haupttores ist ein Versteck
mit Vorräten verborgen. Mein Mann wird dir einen
Leitstrahlsender geben. Warte dort, und er wird zu dir kommen, wenn
die Suche beendet ist. Enttäusche uns nicht. Es ist extrem
wichtig, daß die Pilotin nicht verhört wird, und dennoch
brauchen wir sie lebend.«
    »Ich bin geehrt, daß du so hoch von mir denkst,
Urgroßvater«, sagte Lee, »aber ich bin bloß ein
Vertrags-Agronom-Techniker. Du würdest mir zutrauen, die Pilotin
im Sturm am Leben zu erhalten?«
    »Du bist mein geliebter Sohn, den ich so sorgfältig
unterwiesen habe. Du wirst einen Weg finden. Du wirst von diesem Danwei verschwinden, und sie werden sagen, du habest
Selbstmord wegen Gesichtsverlust begangen. Wenn wir dich auflesen,
werden wir dir eine neue Identität verschaffen. Dein Leben wird
dir gehören. Natürlich mußt du vielleicht deine
Frisur verändern. Dieser aufgetürmte schmierige Stil ist
zu… extravagant.«
    Der steinerne Löwe, der die ganze Zeit über mit der
unnachgiebigen Geduld seiner Art den Kamin bewacht hatte, gähnte
jetzt und zeigte dabei eine Zunge so lang wie die einer Schlange. Er
streckte die Vorderpfoten: Klauen wie hakenförmige Stalagmiten
kratzten über die schwarzen Kacheln. Lee trat einen Schritt
zurück. Jenseits des Fensters, an dem die Genette friedlich
stand, bedeckte eine Wolke die Sonne, und dann war es, als hätte
sich die Decke des Zimmers weggehoben, um herabscheinende Sterne zu
zeigen.
    Es waren die Lichter der Boxen, gedämpft durch einen Schleier
sturmgepeitschten Staubs. Der Colonel warf Lee etwas in die Hand und
sagte: »Dein Urgroßvater ist äußerst geachtet,
Wei Lee. Ich bin geehrt, ein Diener seiner Faktion zu sein.«
    Es war eine kleine, schlanke Pistole. Ihr Lauf verbreiterte sich
zu einem horizontalen Schlitz. Ein roter Rubin funkelte in ihrem
weißen Knochengriff.
    »Du bist schon zuvor mit Waffen umgegangen«, sagte der
Colonel. »Du weißt, wie diese funktioniert?«
    »Ich glaube schon.«
    Der Colonel nahm Lee die Waffe aus der Hand und verstaute sie mit
schwungvoller Gebärde. »Bete darum, daß du sie nicht
benutzen mußt«, sagte er.
    Lee folgte ihm den Gang zwischen den versperrten Boxen hinab und
wurde jäh von einer Möglichkeit getroffen. Oh ja, viel mehr
als eine Möglichkeit! Er rammte die Hände in die Taschen
seines Overalls und grub die Fingernägel in die Haut der
Handflächen, damit er nicht lächelte.
    »Mir ist selbst deine Frisur aufgefallen«, sagte der
Offizier. »Du bist somit ein Anhänger der Klassik. Und du
bist vielleicht ein Fan der Filme von Jerry Lee Lewis?«
    »Er ist gut, aber nicht so gut wie der King.«
    »Ah ja, der ›King of the

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