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Roter Staub

Roter Staub

Titel: Roter Staub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul J. McAuley
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wobei er sich eines langen
Ritts durch die Frühlingswüste auf einem der außer
Dienst gestellten Streitrösser entsann, das der Akademie
für Mentale Kultivierung von Meister Qing gehörte.
Überall Blumen, ein fließender Teppich, der durch den
Luftzug in die Höhe schoß, der geschmeidige Zug von
Muskeln unter Lees zupackenden Oberschenkeln. Er war nicht älter
als fünf gewesen, aber er erinnerte sich noch immer an die
Befehle und die Positionen sensibler Nervengruppen. Er sprach ein
Wort, und das Streitroß hielt im Gehen inne und starrte ihn mit
einem zusammengekniffenen gelben Auge an. Daraufhin gähnte es
und zeigte eine rauhe Zunge, die zwischen Fängen heraushing, von
denen ein jeder so lang wie die Spanne von Lees Fingern war, und nahm
seine Wanderung wieder auf.
    Weiter unten warf eine zahme Genette ihr langes Gesicht in Lees
Richtung, und er blieb stehen, um das rauhe Haar zwischen ihren
zuckenden Ohren zu kratzen. Als er sich von ihr abwandte, stand ein
Mann in den Schatten am Ende der langen Reihe von Boxen.
    Lee wartete, und der Mann trat vor ins Licht. Er war ein Offizier
der Sprachrohr-des-Volkes-Armee, ein kleiner Mann, der steif dastand
in maßgeschneiderter Jacke und Hose. Die einzigen Rangabzeichen
waren die drei Messingsterne eines Colonels auf seiner grünen
Schulterklappe und seine makellos polierten Stiefel. Er sagte:
»Du bist nervös, Bürger Wei Lee. Hab jedoch keine
Angst, denn ich arbeite für deinen hochgeschätzten
Vorfahren. Erlaube mir, es zu zeigen.«
    Der Colonel blies auf einer kurzen Silberröhre, und
Urgroßvater Wei lächelte und sagte: »Die Zeit ist
gekommen, mein Sohn.«

 
     

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9
     

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    Nachdem Wei Lees Eltern verschwunden waren und er in die Obhut von
Urgroßvater übergeben worden war, war er von Meister Qings
Akademie der Mentalen Kultivation am ersten Tag jedes Monats zu einem
Gespräch ins Große Haus mitgenommen worden. Lees
Urgroßvater war niemals in Fleisch und Blut erschienen –
nur seine Ärzte und Diener sahen ihn. Statt dessen war er
über eine Projektionsanlage zu Besuch gekommen, obgleich Lee, um
die Fiktion aufrechtzuerhalten, daß das Bild Wirklichkeit war,
stets der Anweisung gefolgt war, an einer gewissen Stelle in den
Gärten des Großen Hauses oder in einem gewissen Raum zu
warten, und nach einer Zeit des Wartens begrüßte ihn sein
Vorfahr, und Lee drehte sich um und sah ihn, und das Gespräch
begann. Manchmal dauerte es nur eine Minute, und manchmal wanderten
die Schatten über den von einer Hecke eingefaßten Rasen
oder den kleinen Raum mit den gestrichenen Wänden und wurden
länger, während sie die Stunden von Lees Warten
markierten.
    Also drehte sich Lee jetzt um und sah das Phantombild von
Urgroßvater Wei neben der Box der Genette stehen, die ihr
langes sanftmütiges Gesicht gegen die Stangen drückte, wie
sie es bei Lee getan hatte. Und beim Umdrehen war es, als wäre
Lee von einem Raum in den anderen getreten, nur daß dies ein
Zimmer des Großen Hauses war, dasjenige mit den hölzernen
Paneelen, gitterförmig durchbrochen von Szenerien der Berge der
alten Erde, und der Fußboden war aus schwarzen Kacheln.
    Die Genette drückte ihren Kopf durch ein offenes Fenster, und
Sonnenlicht ergoß sich über ihre Flanken, dasselbe
Sonnenlicht, das lebhaft in dem grünen Garten dahinter schien.
Lee hielt Ausschau nach dem Colonel, doch der war verschwunden; oder
er war vielleicht der Steinlöwe geworden, der neben der breiten
Tür stand, mit runden Augen, gelockter Mähne und einem Maul
mit Fängen.
    »Wie glücklich ich bin, Wei Lee, daß du mein Sohn
bist. Ich könnte mir keinen besseren wünschen.«
    Das Phantombild war ein großer, strenger Mann, jünger,
als Wei Lee ihn im Gedächtnis hatte. Aber Lee war älter
geworden, und das Phantombild nicht. Es hätte den schwarzen
Seidenanzug und das weiße Hemd mit hohem Kragen gerade angelegt
haben können, aber Lee entsann sich, daß dies die Kleider
waren, die das Phantombild stets getragen hatte. Vielleicht war das
Große Haus tatsächlich groß, und seine Zimmer und
Korridore erstreckten sich sowohl durch die Zeit als auch durch den
Raum, so daß Lee, wenn er aus diesem Zimmer ginge, wieder in
seine Kindheit zurückgekehrt wäre. Und dann hatte er die
merkwürdige Vorstellung, daß er, wenn er in den Garten
hinausginge, seine Eltern fände, und aus irgendeinem Grund
erfüllte ihn das mit Entsetzen.
    »Mein Haus hat viele Zimmer«, sagte das Phantombild.
»Nein, Wei Lee, ich kann

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