Roter Staub
gegen
Zuschauer herunter, dann lehnte sie sich ans offene Fenster, rief den
Händlern etwas zu und warf eine Handvoll Scheine im Austausch
gegen Becher mit Tee und Waffeln aus knusprig frittierter
Bohnenpastete hinaus.
»Iß«, sagte sie zu Lee, wie Buddha zum
Grashüpfer.
Lee nippte an heißem Tee, kaute die Waffeln. Seine Kehle war
sehr trocken. Die Söldnerin sagte ihm, daß, wenn er
kooperierte, alles in Ordnung wäre, etwas, das Lee nicht auch
nur einen Augenblick lang glaubte.
Er trank den restlichen Tee, leckte sich die Schmiere von den
Fingern. Die Furcht, daß er jeden Augenblick umgebracht
würde, war nicht geringer geworden, aber er gewöhnte sich
allmählich daran. Jeder Sinn sang ihm mit unglaublicher Klarheit
zu: er war sich der Noppen der Plüschsitze unter seinen
Oberschenkeln bewußt, der Staubteilchen, die in dem Licht
schwammen, das durch das verschmierte Fenster fiel, des
elektrisierenden Moschusdufts der Söldnerin.
Sie beobachtete ihn, wie er sie beobachtete. Ein rätselhafter
Blick, wegen der purpurrot-goldenen Linsen ihrer Video-Blenden. Dann
und wann legte sich ein Film darüber, während sie eine
Übertragung sendete oder empfing. Abrupt sagte sie: »Sie
lebt noch immer. Nach dem Transfer.«
»Ich glaube nicht, daß sie es Leben nennt.«
»Name?«
»Miriam. Miriam Makepeace Mbele. Hast du sie
gekannt?«
»Ich glaube kaum. Die Familie, natürlich. Der Nexus ist
einer der letzten Bastionen, aber sie werden fallen. Sie werden
fallen. Sie war auf der falschen Seite.«
»Sie hat genauso ausgesehen wie du.«
»Natürlich. In einem Guerillakrieg ist es stets besser,
wenn die Rebellen dieselben Waffen benutzen wie die Regierung, die
sie bekämpfen. Alles andere schafft logistische Probleme. Dem
Nexus war vor Jahrhunderten gestattet worden, mein Genom zu erwerben
– wir können stets voraussagen, wann sie den Versuch
unternehmen und es benutzen und wie es sich verhalten wird. Abgesehen
davon, ich verstehe, daß alle Außerweltler für die
Han gleich aussehen.«
»Ich weiß nicht. Ich bin erst zwei Außerweltlern
begegnet. Dir und Miriam. Ihr unterscheidet euch von den
Yankees.« Aus irgendeinem Grund dachte er an Redd.
»Die Genreihe war ursprünglich kaukasisch. Aber sie
wurde… etwas angepaßt.«
Lee erinnerte sich an Miriam in dem Traum. Bleichgesichtig,
strohfarbenes Haar, in grob zusammengeflickter Kleidung. »Miriam
hat den Namen der Familie angenommen, die sie besaß. Aber du
arbeitest frei?«
Das Aussprechen von Miriams Namen versetzte ihm einen Stich der
Hoffnung, als wäre es ein Bannspruch, um den Tod abzuwenden.
»Sie war eine Närrin, ihre Zugehörigkeit laut zu
verkünden. Was mich betrifft, so wirst du herausfinden, ob du es
herausfinden sollst.«
»Du bist so besorgt um Geheimhaltung, dennoch benimmst du
dich auf eine Weise, daß der ganze Bahnhof wissen muß,
was hier geschieht.«
»Das ist der Sinn. Du glaubst, nur ich und dieser
Armeedöskopf arbeiten zusammen, um dich
hierherzubringen?«
»Jemand hat mich gestern abend verfolgt.«
Die Söldnerin hob die Schultern. »Vielleicht war’s
einer von unseren, vielleicht nicht. Was ist ihm
zugestoßen?«
»Er ist verschwunden. Ich glaube, ertrunken.«
Erneut hob die Söldnerin die Schultern.
Schweigen. Lee versuchte, Miriam heraufzubeschwören, aber sie
war außer Reichweite. Er brauchte Chen Yao, die direkt mit
virencodierten Persönlichkeiten sprechen konnte.
Der Zug zitterte und ruckte und setzte sich allmählich in
Bewegung, und im selben Augenblick zog eine plumpe Frau in einer
grauen Steppjacke die Tür zurück. Sie hatte ein Clipboard
unter dem Arm und eine spitze Mütze zurückgeschoben auf dem
Kopf. Sie sagte: »Entschuldigt bitte, Bürger, haben Sie
eine Reservierung für dieses Abteil? Es hat eine Beschwerde
gegeben.«
Lee sah seine Chance. Er sprang auf die Füße, verneigte
sich und sagte rasch, es täte ihm sehr leid, er hätte einen
Fehler begangen. Die Söldnerin stürzte sich auf ihn, und er
stürmte in das Gedränge im Gang, wobei er über Pakete,
Körbe und sitzende Menschen stolperte. Der Zug zitterte und
schwankte, während er auf buckligen Schienen Geschwindigkeit
aufnahm. Lee riskierte einen Blick zurück über die Schulter
und sah die Söldnerin, wie sie, halb drinnen, halb
draußen, versuchte, die Schaffnerin abzuschütteln, die
sich hartnäckig an einen ihrer Arme klammerte.
Lee sprang durch ein Knäuel von Menschen, erreichte die
Türangel. Fahrgäste, die sich an Haltegriffen
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