Roter Zar
ruinieren.«
Bandelajew saß nicht gern. Sitzen zeugte seiner Meinung nach von Faulheit. Wenn er Pekkala unterrichtete, stand er hinter einem Pult, auf dem verschiedene Tabletts lagen. Hin und wieder griff er sich einen Knochen und hielt ihn hoch, damit Pekkala ihn identifizierte. Oder er griff in ein Glas, holte einen blassen Fleischbrocken heraus und befahl Pekkala, ihn zu benennen, während ihm braune Konservierungsflüssigkeit über die Finger lief und auf den Ärmel tropfte.
Einmal hielt Bandelajew einen Schädel hoch, in dessen Stirn ein kleines, sauberes Loch zu sehen war, hervorgerufen von einer aus nächster Nähe abgefeuerten Kugel.
»Wissen Sie, dass es in den Sommermonaten nur eine Frage von Minuten ist, bis sich Schmeißfliegen auf dem Leichnam niederlassen? Sie konzentrieren sich dabei auf den Mund, die Nase, die Augen oder die Wunde.« Bandelajew steckte den kleinen Finger in das Loch in der Stirn. »In wenigen Stunden können sie bis zu einer halben Million Eier in der Leiche ablegen. Die Maden, die daraus schlüpfen, können an einem einzigen Tag einen ausgewachsenen Mann um die Hälfte seines Körpergewichts verringern. In einer Woche« – er warf den Kopf zur Seite, eine Geste, die er zur Betonung einsetzte, die aber eher wie eine nervöse Zuckung anmutete – »ist dann bis auf die Knochen nichts mehr übrig.«
Pekkala, der unzählige Leichen auf dem Arbeitstisch seines Vaters gesehen hatte, war nicht besonders zimperlich. Er zuckte nicht zusammen, wenn Bandelajew ihm eine Leber in die Hände warf oder eine Schachtel mit menschlichen Fingerknöchelchen reichte. Da er die stille Verehrung gewohnt war, die sein Vater den Leichen in seiner Obhut entgegenbrachte, fiel es ihm allerdings schwer, mit Bandelajews völliger Missachtung der Menschen zurechtzukommen, deren Leichname er abwechselnd zerlegte und wieder zusammensetzte, die er verwesen ließ oder in Konservierungsflüssigkeit einmachte.
Sein Vater hätte Bandelajew nicht gemocht. Bandelajews atemlose Leidenschaft hatte etwas an sich, was sein Vater für würdelos gehalten hätte.
Als Pekkala erwähnte, dass sein Vater Bestatter gewesen war, zeigte sich Bandelajew von dessen Tätigkeit ebenso unbeeindruckt. »Drollig«, sagte er abwertend, »und letzten Endes völlig bedeutungslos.«
»Und warum?«, fragte Pekkala.
»Die Arbeit eines Bestatters«, sagte Bandelajew, »besteht darin, eine Illusion zu erschaffen. Sie ist nichts anderes als die Vorführung eines Zauberers, der den Anschein erweckt, als hätten die Toten Frieden gefunden. Als würden sie schlafen.« Er sah zu Pekkala, als wollte er ihn fragen: Und was ist der Zweck des Ganzen? »Die Osteologie dagegen ist die Erkundung des Todes.« Bandelajew klang, als könnte niemand dem drängenden Bedürfnis widerstehen, einen Leichnam mit Skalpell und bloßen Händen zu zerlegen.
»Lebend«, sagte Bandelajew, »interessieren Sie mich kaum, Pekkala. Aber wenn Sie tot bei mir aufkreuzen, dann verspreche ich Ihnen, werden wir uns richtig kennenlernen.«
Pekkala lernte zwischen Frauenschädel – schmaler Mund, spitzes Kinn, abgerundete Stirn und scharfkantiger Übergang von Augenhöhle zur Stirn – und Männerschädel zu unterscheiden, der sofort am knochigen Höcker an der Schädelbasis zu erkennen war.
»Identität!«, kam es von Bandelajew. »Geschlecht, Alter, Statur.«
Aus seinem Mund hörte es sich an wie eine Zauberformel.
»Die Protuberantia occipitalis externa !«, verkündete Bandelajew, als stellte er den versammelten Mitgliedern des Königshauses einen Würdenträger vor.
Pekkala lernte die schiefwinkelig stehenden Zähne eines Afrikaners von denen eines Weißen zu unterscheiden, die senkrecht aus dem Kiefer wuchsen.
Er studierte die Zickzacklinien der Schädelnähte, die sich wie Gewitterblitze über den Knochen zogen, während Bandelajew ihm über die Schulter schaute und fragte: »Was sagen sie Ihnen? Was können Sie daran ablesen?«
Am Ende jeder Lektion empfahl Bandelajew die Lektüre von Gelehrten wie Vitruv, aus denen Pekkala lernte, dass die Länge der ausgestreckten Arme zur Körperhöhe korrespondierte oder die Länge der Hand etwa einem Zehntel der Körpergröße entsprach.
Einmal schickte ihn Bandelajew mit der Übersetzung eines Buches aus dem dreizehnten Jahrhundert nach Hause, »Das Fortspülen des Unrechten«, das der chinesische Arzt Song Ci verfasst hatte. In ihm war die Vertilgung toter Körper durch Maden mit geradezu religiöser Inbrunst
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