Roter Zar
ein.
»Was machen wir mit der Leiche?«, fragte Kirow, der sich den Mund am Ärmel abwischte.
»Liegen lassen!«, brüllte Anton.
Kirow setzte sich hinters Lenkrad.
Pekkala starrte auf den Toten. Die Pfütze hatte sich rot verfärbt. Dann stieg auch er ein.
Sie fuhren los.
Lange Zeit sagte keiner etwas.
Keine der Straßen, über die sie fuhren, war geteert, andere Autos kamen ihnen nur selten entgegen. Oft passierten sie Pferdekarren, oder sie mussten abbremsen, um den Pfützen auszuweichen, die stellenweise zu kleineren Teichen angewachsen waren.
In der weiten, leeren Landschaft verloren sie schließlich die Orientierung. Die sanften Hügel und Senken sahen irgendwann alle gleich aus. Alle Straßenschilder schienen gewaltsam entfernt worden zu sein, nur die gesplitterten Holzpfosten standen noch, an die früher die Wegweiser genagelt gewesen waren. Kirow besaß eine Karte, aber sie schien nicht zu stimmen.
»Ich weiß noch nicht mal mehr, in welche Richtung wir fahren«, seufzte er.
»Halten Sie an«, sagte Pekkala.
Kirow warf ihm durch den Rückspiegel einen Blick zu.
»Wenn Sie anhalten, kann ich Ihnen sagen, wohin wir fahren.«
»Sie haben einen Kompass?«
»Noch nicht«, erwiderte Pekkala.
Grummelnd ging Kirow vom Gas. Der Wagen rollte mitten auf der Straße aus. Er schaltete den Motor ab.
Stille legte sich über sie wie eine Staubwolke.
Pekkala stieg aus.
Der Wind wehte durch das hohe Gras.
»Was macht er?«, fragte Kirow.
»Lassen Sie ihn in Ruhe«, erwiderte Anton.
Pekkala nahm ein Brecheisen aus dem Kofferraum, das dort zwischen Benzinkanistern, einem Abschleppseil und mehreren lose hin und her rollenden Dosen Armeeverpflegung lag.
Er ging aufs Feld hinaus und rammte das Eisen in die Erde. Dessen Schatten erstreckte sich weit über den Boden. Dann beugte er sich vor und suchte sich zwei Kieselsteine. Einen von ihnen legte er ans Ende des Schattens, den anderen steckte er sich in die Hosentasche. Zu den Männern im Wagen gewandt, sagte er: »Zehn Minuten.« Dann ließ er sich im Schneidersitz neben dem Brecheisen nieder.
Beide Männer sahen durch die Seitenscheibe zu Pekkala und die öde, verlassene Landschaft.
»Was macht er da?«, fragte Kirow.
»Einen Kompass.«
»Er weiß, wie das geht?«
»Fragen Sie mich nicht, was er alles weiß.«
»Er tut mir leid«, sagte Kirow.
»Er will Ihr Mitleid nicht«, erwiderte Anton.
»Er ist der Letzte seiner Art.«
»Er ist der Einzige seiner Art.«
»Was ist aus all den Leuten geworden, die er vor der Revolution gekannt hat?«
»Tot«, sagte Anton. »Alle bis auf einen.«
Sie ist eine Schönheit«, sagte der Zar.
Pekkala stand neben ihm auf der Veranda des großen Ballsaals und blinzelte in das frühsommerliche Nachmittagslicht.
Ilja hatte gerade ihre Schülerinnen durch den Katharinenpalast geführt. Die zwölf Kinder, die sich jeweils zu zweit an der Hand gefasst hatten, überquerten nun die Chinesische Brücke.
Ilja war eine große Frau mit Augen, die so blau waren wie alte Delfter Keramik, und dunkelblonden Haaren, die über den braunen Samtkragen ihres Mantels fielen.
Der Zar nickte anerkennend. »Sunny mag sie.« So nannte er seine Frau, Zarin Alexandra. Sie hatte ihm im Gegenzug den seltsamen Namen »das blaue Kind« verpasst, nach einer Figur aus einem Roman der Schriftstellerin Florence Barcley, der ihnen beiden gefallen hatte.
Nach der Chinesischen Brücke führte Ilja die geordnete Prozession in Richtung der Gribok-Gärten. Sie wollten zum Chinesischen Theater, dessen Fenster mit Giebeln gekrönt waren, die an die Bärte mongolischer Herrscher erinnerten.
»Wie viele solcher Besichtigungen unternimmt sie?«, fragte der Zar.
»Für jede Klasse eine, Exzellenz. Es ist der Höhepunkt des Schuljahrs.«
»Hat sie Sie wieder einmal schlafend auf dem Stuhl angetroffen, womöglich mit den Füßen auf einem meiner unschätzbaren Tische?«
»Das war das letzte Mal.«
»Und sind Sie mit ihr verlobt?«
Pekkala räusperte sich nervös. »Nein, Exzellenz.«
»Warum nicht?«
Er spürte, wie er rot wurde. »Ich hatte so viel mit der Ausbildung zu tun, Exzellenz.«
»Das mag ein Grund sein«, erwiderte der Zar, »aber ich würde es nicht als Entschuldigung gelten lassen. Außerdem wird Ihre Ausbildung bald vorbei sein. Haben Sie vor, sie zu heiraten?«
»Ja. Irgendwann.«
»Dann sollten Sie sich beeilen, damit Ihnen nicht ein anderer zuvorkommt.« Der Zar schien die Hände zu wringen, als wäre ihm gerade etwas in den Sinn
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