Roter Zar
in meiner Badewanne gebrannt«, sagte Anton. Er nahm einen weiteren Schluck, bevor er die Flasche wieder einsteckte.
»Wollen Sie Ihrem Bruder nichts anbieten?«
Anton streckte sich aus und legte den Kopf auf den Geheimbericht. »Ermittlern ist Alkohol im Dienst nicht gestattet. Ist es nicht so, Bruder?« Er zog sich seinen schweren Mantel über und rollte sich zusammen. »Ruht euch aus«, sagte er. »Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«
»Ich dachte, wir würden nur zum Essen anhalten«, sagte Kirow. »Sie meinen, wir verbringen die ganze Nacht hier? Auf dem nackten Boden?«
»Warum nicht?«, murmelte Anton schläfrig.
»Ich bin ein Bett gewohnt«, sagte Kirow. »Ich hatte immer ein eigenes Zimmer.« Er holte die Pfeife aus seiner Tasche. Ungeduldig und fahrig stopfte er sie.
»Sie sind zu jung für eine Pfeife«, sagte Anton.
Kirow streckte sie stolz von sich. »Der Pfeifenkopf ist aus englischem Bruyèreholz.«
»Pfeifen sind was für alte Männer«, sagte Anton mit einem Gähnen.
Kirow starrte ihn finster an. »Genosse Stalin raucht auch Pfeife!«
Aber sein Kommentar kam bei Anton gar nicht mehr an. Er war eingeschlafen, und sein gleichmäßiger Atem klang wie ein langsam über ihnen hin und her schwingendes Pendel.
Auch Pekkala döste vor sich hin, hörte noch Kirow, wie er die Zähne auf den Pfeifenstiel schlug, und sog den balkanischen Tabak ein, der wie ein neues Paar Lederschuhe roch, das frisch aus seinem Karton kam. Dann rüttelte Kirows Stimme ihn wach.
»Ich frage mich …«, begann er.
»Was?«, brummte Pekkala.
»Wenn es wirklich die Romanows sind, dann müssen die Leichen doch schon seit Jahren im Schacht liegen.«
»Ja.«
»Dann ist von ihnen doch nichts mehr übrig. Wie wollen Sie da noch etwas ermitteln, wenn es nichts mehr zu ermitteln gibt?«
»Es gibt immer etwas zu ermitteln«, erwiderte Pekkala, und dabei stand ihm das Gesicht von Dr. Bandelajew vor Augen.
Er ist der Beste«, hatte Wassilejew Pekkala gesagt, »auf einem Gebiet, von dem jeder, der noch bei Trost ist, die Finger lassen würde.«
Dr. Bandelajew war vollkommen kahl. Sein Schädel glich einer glänzenden rosafarbenen Glühbirne. Wie zum Ausgleich dafür trug er einen dichten Walross-Schnauzer.
Wassilejew brachte Pekkala an einem heißen, schwülen Julinachmittag ins Labor von Bandelajew.
Der Geruch, der ihm dort entgegenschlug, war ihm vertraut – ein scharfer, süßlicher Geruch, der einem durch und durch ging. Er kannte ihn aus dem Keller seines Vaters, des Bestatters.
Wassilejew hielt sich ein Taschentuch vor Mund und Nase. »Großer Gott, Bandelajew, wie halten Sie das nur aus?«
»Atmen Sie tief ein!«, befahl Bandelajew. Er trug einen knielangen Laborkittel, auf dem in roter Farbe sein Name und das Wort »Osteologe« aufgestickt waren. »Atmen Sie den Geruch des Todes ein.«
Wassilejew wandte sich an Pekkala. »Der Doktor steht Ihnen voll und ganz zur Verfügung«, sagte er durch das Taschentuch hindurch. Dann verließ er eiligst das Labor.
Pekkala sah sich um.
Eine Fensterseite zeigte zum Hauptgebäude der Staatlichen Universität Petrograd, der Ausblick dorthin aber wurde durch Regale mit Gläsern verstellt, in denen Menschenteile lagen, konserviert in einer bräunlichen, teeähnlichen Flüssigkeit. Pekkala sah die abgetrennten Stümpfe von Händen und Füßen, aus denen noch die Knochen ragten. In anderen Gläsern lagen aufgerollte Gedärme. Auf der anderen Seite des schmalen Gangs waren auf Metalltabletts Knochen ausgelegt, die wie nicht vollendete Puzzles aussahen.
»In der Tat, es sind Puzzles!«, sagte Bandelajew, als Pekkala ihm gegenüber diesen Gedanken erwähnte. »Alles hier, alles, was ich mache, kann als ein Puzzle bezeichnet werden.«
In den folgenden Tagen hatte Pekkala zu tun, um Bandelajews Unterricht zu folgen.
»Der Gestank eines verwesenden Menschen unterscheidet sich nicht von dem eines toten Rehs«, sagte Bandelajew, »und deswegen glaube ich nicht an Gott.« Der Arzt sprach schnell, seine Wörter klebten aneinander, bis ihm der Atem ausging und er gezwungen war, nach frischer Luft zu schnappen.
Frische Luft aber gab es nicht in Bandelajews Labor. Die Fenster blieben geschlossen und waren versiegelt.
»Wegen der Insekten«, sagte Bandelajew. »Das hier ist nicht nur ein Laden voll faulendem Fleisch, wie manche meiner Kollegen sagen. Nein, hier drin werden sämtliche Facetten des Verwesungsprozesses studiert. Und eine Fliege kann die Arbeit von Wochen
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