Roter Zar
militärischen Verpflegungsrationen, betasteten das aufgeschossene Hanfseil. Als sie nichts fanden, wandte sich der erste Wachmann an die drei Männer. »Sie haben sich verfahren«, sagte er.
»Nein«, erwiderte Kirow. »Wir wollen nach Wodowenko.«
»Ich habe nicht gefragt, ob Sie sich verfahren haben. Ich habe es Ihnen gesagt.«
»Warum ist davon nichts auf der Karte verzeichnet?«, fragte Anton.
»Es ist mir nicht gestattet, auf diese Frage zu antworten«, sagte der Offizier. »Es ist noch nicht einmal gestattet, diese Frage zu stellen.«
»Aber wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte Anton. »Das ist die einzige Straße nach Süden.«
»Sie werden umkehren«, antwortete der Offizier. »Fahren Sie wieder zurück. Irgendwann kommen Sie an eine Kreuzung, dort können Sie nach Norden abbiegen. Und dann« – er machte eine schlängelnde Handbewegung – »treffen Sie nach einer Weile auf eine andere Straße, die nach Osten führt.«
»Das wird Stunden dauern!«, sagte Kirow.
»Je früher Sie sich also auf den Weg machen …«
Anton wühlte in der Innentasche seines Rocks.
Der zweite Wachmann schlug langsam die Lasche seines Revolverholsters auf.
Anton brachte einige dünne wächserne, fast durchscheinende Blätter zum Vorschein, von denen das letzte unten auf der Seite mit Tinte unterzeichnet war, die sich durch das Papier gedrückt hatte. »Lesen Sie das!«, sagte er.
Der Offizier riss ihm die Blätter aus der Hand. Dann ging sein Blick nacheinander zu den drei Männern.
Geduldig brummte der Motor des Emka vor sich hin und stieß seine Abgase aus.
Der zweite Wachmann sah dem Offizier über die Schulter und las ebenfalls die Befehle, die Anton ihnen gegeben hatte. Plötzlich schnappte er nach Luft. »Das Smaragdauge«, entfuhr es ihm.
An einem späten Septembernachmittag wurde Pekkala in den Katharinenpalast auf dem Gelände des Zarskoje Selo gerufen.
Er traf spät ein. Am Nachmittag hatte er im Prozess gegen Grodek ausgesagt. Die Anhörung hatte länger als erwartet gedauert. Als er endlich aus dem Zeugenstand entlassen wurde, war er längst überfällig.
Er nahm an, dass der Zar nicht auf ihn warten würde, sondern sich bereits in seine Gemächer zurückgezogen hatte. Da er keinerlei Möglichkeit hatte, dies in Erfahrung zu bringen, und auch sonst nicht wusste, was der Zar von ihm wollte, fuhr Pekkala für alle Fälle trotzdem hinaus. In seinen zwei Jahren als Sonderermittler des Zaren war es häufig geschehen, dass er den Zweck seines Besuchs erst nach dem Eintreffen erfahren hatte. Der Zar mochte es nicht, wenn man ihn warten ließ. Er achtete sehr auf Disziplin, seine Tage gehorchten einem rigorosen Zeitplan, dem sich Konferenzen, Mahlzeiten, körperliche Betätigung und Zeit mit der Familie unterzuordnen hatten. Wer diesen Ablauf störte, durfte nicht auf sonderlich viel Verständnis hoffen.
Zu Pekkalas Überraschung teilte ihm der Diener, der ihm im Katharinenpalast entgegenkam, mit, dass der Zar auf ihn warte und ihn – die nächste Überraschung – im Bernsteinzimmer empfangen wolle.
Das Bernsteinzimmer war einmalig auf der Welt. Manche hatten es sogar als das achte Weltwunder bezeichnet. Nur wenige Menschen außerhalb der unmittelbaren Familie durften es betreten. Das Zimmer war nicht groß, etwas mehr als sechs Schritt breit und zehn Schritt lang, und so hoch wie zwei große Männer. Auch hatte man dort im Gegensatz zu anderen Räumen im Katharinenpalast keine grandiose Aussicht. Was es einzigartig machte, waren die Wände, die vom Boden bis zur Decke mit über einer halben Million Bernsteinintarsien vertäfelt waren. In den Holzmosaiken auf dem Boden spiegelte sich diese schwindelerregende Zusammenstellung, und in einem Glasschrank in einer Ecke waren Schmuckstücke ausgestellt, die ebenfalls aus dem fossilen Harz hergestellt waren – Zigarrenkisten, Spieldosen, Haarbürsten und ein kompletter Satz Schachfiguren.
Wenn Licht durch die Fenster fiel, glühten die Wände aus sich heraus und erstrahlten in einem warmen Licht. In solchen Augenblicken erschienen die Bernsteinwände fast wie ein Fenster in eine Welt fortwährenden Sonnenuntergangs.
Obwohl Pekkala häufig von den unschätzbaren Besitztümern des Zaren umgeben war, trachtete er nicht danach. Er war in einem Haus aufgewachsen, in dem Schönheit in der Einfachheit lag. Werkzeuge, Möbel, Besteck wurden geschätzt, weil sie nichts Verspieltes an sich hatten. Vieles, was der Zar besaß, erschien Pekkala einfach nur
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