Roter Zar
Pekkala wird das nie passieren.«
»Aber warum nicht?«
»Weil es ihm einfach nicht passieren wird. Männer wie er, Alexej, sind dünn gesät, man findet kaum einen unter einer Million, aber wenn einer vor dir steht, erkennst du ihn auf den ersten Blick.«
»Warum macht er diese Arbeit?«, fragte Alexej. »Glaubst du, er genießt das Leben?«
»Es ist keine Frage des Genießens«, erwiderte der Zar. »Er ist dafür geschaffen, so wie ein Windhund fürs Laufen geschaffen ist. Er macht das, wofür er auf diese Welt gekommen ist, weil er weiß, dass es wichtig ist.«
Pekkala musste an seinen Vater denken, der eine Arbeit verrichtete, die sonst keiner machen wollte. In den vergangenen Monaten hatten ihn die außerordentlichen Zufälle, die dazu geführt hatten, dass er für den Zaren arbeitete, immer wieder in grenzenloses Erstaunen versetzt. Jetzt aber, als er diese Worte hörte, erschien ihm das, was er als Ergebnis unwahrscheinlicher Zufälle erachtet hatte, geradezu als unausweichlich.
»Brauchst du wirklich jemanden wie ihn?«, fragte Alexej.
»Tatsache ist leider, dass die Ochrana voller Spitzel ist. Genau wie die Gendarmerie. Die beiden Einrichtungen bespitzeln sich gegenseitig. Wir schleusen Spitzel in die Reihen der Terroristen ein. Wir schaffen sogar Spionageringe, die scheinbar gegen uns arbeiten, in Wirklichkeit aber von der Regierung gesteuert werden. Die Täuschungen nehmen kein Ende. Wenn die Menschen an dem Punkt sind, an dem sie nicht mehr erwarten, von vertrauenswürdigen Leuten regiert zu werden, ist dieses Land dem Untergang geweiht. Unter diesen Umständen, Alexej, braucht das Volk einen Menschen, von dem es weiß, dass es sich auf ihn verlassen kann.«
»Mehr noch als auf dich, Papa?«
»Das hoffe ich natürlich nicht«, erwiderte der Zar. »Aber die Antwort lautet trotzdem ja.«
A lles in Ordnung?«, hallte Kirows Stimme in den Schacht hinunter.
Pekkala sah nach oben. Anton und Kirow zeichneten sich wie Scherenschnitte ab, als sie sich über die Schachtöffnung beugten. »Es geht mir gut«, sagte er stockend.
»Sind sie es?«, fragte Anton.
»Ja, aber einer fehlt.« Bis jetzt hatte Pekkala nur drei Möglichkeiten in Betracht gezogen. Erstens: Es gab keine Leichen. Zweitens: Es gab Leichen, aber es handelte sich nicht um die Romanows. Drittens: Er würde tatsächlich die Romanows am Grund des Bergwerksschachts finden. Die Möglichkeit, dass eines der Familienmitglieder fehlen könnte, war ihm nie in den Sinn gekommen.
»Einer fehlt?«, schrie Kirow. »Wer?«
»Alexej«, rief Pekkala.
Das Licht der Taschenlampe war fast erloschen, der kupferfarbene Schein drang kaum noch über die Linse hinaus. Die Dunkelheit kroch von allen Seiten näher.
»Bist du dir sicher?«, fragte Anton. Seine Stimme wurde durch den Schacht wie in einem Megaphon verstärkt.
Pekkala sah zu dem verschütteten Stolleneingang. »Ja. Ziemlich sicher.« Selbst wenn Alexej den Sturz überlebt haben sollte, hätte er es nie in den Stollen geschafft. Außerdem wäre der junge Mann als Bluter an seinen Verletzungen sehr schnell gestorben.
Die Stimmen der beiden Männer, die sich etwas zuflüsterten, klang für Pekkala wie das Zischeln von Schlangen.
»Wir ziehen dich hoch!«, rief Anton.
Kurz darauf wurde der Motor des Emka angelassen.
»Halt dich am Seil fest«, rief Anton. »Kirow wird langsam zurückstoßen. Wir holen dich raus.«
Flackernd strich das Taschenlampenlicht über die Wände und warf Schatten, die wie Geister aus den Felsen traten.
Pekkala griff nach dem Seil.
»Bereit?«, fragte Anton.
»Ja«, antwortete er.
Der Motor heulte auf, und Pekkala wurde langsam nach oben gezogen. Er sah zu den Leichen zurück, die er der Reihe nach abgelegt hatte. Ihre Münder standen weit offen – ein lautloser, schauderhafter Chor.
Ans Seil geklammert, schritt Pekkala die senkrechten Schachtwände hinauf. Schließlich, als er fast oben war, winkte Anton Kirow zu. Der Wagen kam zum Stehen. Anton streckte ihm die Hand entgegen. »Halt dich fest«, sagte er.
Pekkala zögerte.
»Wenn ich dich umbringen wollte«, sagte Anton, »hätte ich das längst tun können.«
Pekkala löste eine Hand vom Seil und ergriff den Unterarm seines Bruders.
Und Anton hievte ihn aus dem Schacht.
Kirow wickelte das Seil auf, Pekkala ging zum Wagen und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Kühlerhaube.
Anton bot ihm seinen Flachmann mit dem Samahonka an.
Pekkala schüttelte den Kopf. »Dir ist klar«, sagte er, »dass wir
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