Roter Zar
Familie getötet haben …«
»Das müsst ihr niemandem auf die Nase binden. Sagt einfach, es gebe neue Erkenntnisse. Um welche es sich dabei handelt, müsst ihr nicht erklären. Außerdem werden die meisten sowieso zu sehr mit euren Fragen beschäftigt sein, es wird keinem in den Sinn kommen, auch noch eigene Fragen zu stellen. Erkundigt euch, ob sich damals, als die Romanows verschwunden sind, Fremde in der Stadt aufgehalten haben. Ob seitdem irgendwo Leichen aufgetaucht sind. Wenn jemand von außerhalb irgendwo und in aller Eile ein Mordopfer verscharrt hat, dürfte das den Einheimischen kaum verborgen geblieben sein.«
»Seitdem ist viel Zeit vergangen«, warf Anton ein. »Wenn sie bislang ihre Geheimnisse für sich behalten haben, warum sollten sie ausgerechnet jetzt damit herausrücken?«
»An Geheimnissen hat man schwer zu tragen«, antwortete Pekkala. »Mit der Zeit wird die Last unerträglich. Redet mit den Menschen, die im Freien arbeiten, mit Postboten, Waldarbeitern, Bauern. Wenn sich in den Tagen vor dem Verschwinden Ungewöhnliches zugetragen hat, dann dürften sie es als Erste mitbekommen haben. Oder geht in die Schänke …«
»In die Schänke?«, fragte Anton.
Kirow rollte mit den Augen. »Auf einmal ist er kaum noch zu bremsen.«
»Dort erfährt man mehr Geheimnisse als sonst wo«, sagte Pekkala. »Ihr müsst nur darauf achten, nüchtern zu bleiben, damit ihr mitbekommt, was die anderen erzählen.«
»Natürlich«, sagte Anton. »Für wen hältst du mich?«
Pekkala antwortete nichts darauf. Er starrte auf die Bratpfanne. »Ist davon noch was übrig?«, fragte er.
»Ein bisschen.« Anton reichte ihm die Pfanne.
Pekkala setzte sich neben seinen Bruder auf die Steinstufe. Vom Hühnchen war nichts mehr da, aber er fuhr mit dem Kochlöffel am Pfannenrand entlang und kratzte noch etwas Sauce und eine letzte jadegrüne Stachelbeere zusammen. Die noch warme buttrige Sauce, die mit gehackter Petersilie vermischt und mit gerösteten Semmelbröseln eingedickt worden war, knirschte zwischen den Zähnen. Er kostete süßlichen Zwiebelgeschmack und den erdigen Geruch gekochter Karotten. Dann schob er die Stachelbeere auf die Zunge und presste sie langsam gegen den Gaumen, bis die rauhe Schale platzte und der warme, durchdringende Saft sich im Mund ausbreitete. Speichel sammelte sich unter der Zunge, und er musste an die Winter in seiner Hütte im Wald von Krasnagoljana denken, als er sich wochenlang nur von Kartoffeln und Salz ernährt hatte. Er erinnerte sich an die Nächte und die Stille, die so vollkommen war, dass er sogar das leise Rauschen hörte, das nur in absoluter Lautlosigkeit wahrzunehmen war. Er hatte es oft in den Wäldern gehört, und in den Wintermonaten war es ihm ohrenbetäubend laut vorgekommen. Schon als Kind war es ihm aufgefallen. Sein Vater hatte ihm erklärt, dass dieses Geräusch von seinem Blut kam, das durch den Körper strömte. Mehr als jeder Stacheldraht war diese Stille sein Gefängnis in Sibirien gewesen. Sein Körper hatte dieses Gefängnis mittlerweile hinter sich gelassen, seine Seele aber war immer noch darin gefangen. Erst jetzt, als der Geschmack dieses Essens seine Sinne anregte, spürte Pekkala, wie er allmählich die Jahre als Sträfling hinter sich ließ.
Nach seiner Verhaftung auf dem Bahnhof von Vainikkala wurde Pekkala ins Butyrka-Gefängnis in Petrograd gebracht. Der Webley und seine Ausgabe des Kalevala wurden den Behörden übergeben. Man zwang ihn, in einem riesigen Buch mit Tausenden von Seiten zu unterschreiben. Die Seite lag unter einer Stahlplatte, die nur das Feld freiließ, in dem er seinen Namen eintragen sollte. Von dort brachten ihn die Wärter in einen Raum, in dem er sich ausziehen musste. Seine Kleidung wurde weggebracht.
Nervös ging Pekkala auf und ab. Die Decke war hoch, die Seitenwände maßen drei und vier Schritte und waren bis auf Brusthöhe braun gestrichen, darüber waren sie weiß. Das Licht im Raum stammte von einer einzelnen Glühbirne, die über der Tür in einem Drahtkäfig hing. Es gab weder Bett noch Stuhl, noch andere Möbel, weshalb sich Pekkala nach einer Weile einfach auf den Boden setzte, sich mit dem Rücken gegen die Wand lehnte und die Beine an die Brust zog. Alle paar Minuten wurde ein Guckloch in der Tür geöffnet, und ein Augenpaar spähte herein.
Während er nackt in der Zelle wartete, stießen die Gefängniswärter, die seine Kleidung durchsuchten, auf das Smaragdauge, das er unter dem Revers seines Mantels
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