Rotglut - Kriminalroman
er selbst mal nicht mehr ist, fällt ›La Corne‹ an Joseph. Dies hat er schriftlich niedergelegt.
Viel ist die Kneipe zwar nicht wert, aber er hat sonst nichts, was er Joseph hinterlassen kann. Yves muss unwillkürlich schmunzeln. Bei der Namenssuche für seine Bar hat ihn damals dann doch die Sentimentalität gepackt. La Corne – das Horn. Er hat doch irgendwo seine Wurzeln im Bremer Stadtteil Horn, die er nie zu kappen vermocht hat.
Yves schiebt sich seine Lesebrille über die Augen und blättert die Matin Fraternité auf. Es interessiert ihn nicht wirklich, was die Presse schreibt, aber der Fisch ist in mehrere Lagen Papier verpackt gewesen, und die äußerste besteht aus vier Seiten der Matin von vor zwei Tagen.
Ein riesiges Foto springt ihm ins Auge: gut gekleidete Damen und Herren beim Empfang dreier neuer Mitarbeiter des deutschen Botschafters Stephan Keller, aufgenommen im Park der Botschaft.
Yves weiß, dass Keller seit zwei Jahren Deutschland an der Elfenbeinküste vertritt. Er überfliegt den Artikel. Er stammt von einem deutschen Journalisten, der als Pressesprecher für die Botschaft tätig ist. Plötzlich kneift Yves die Augen zusammen, reibt die Brille am Hemdzipfel sauber und starrt noch einmal auf den langen Artikel, in den ein kleineres Foto integriert ist: Der Botschafter schüttelt einem Mann die Hand. Ungläubig liest er den Text unterhalb des Bildes.
›Besonders herzlich begrüßte der Botschafter den Diplomaten Dr. Hans-Joachim Teschen, der seit drei Monaten in Abidjan seinen Dienst versieht. Keller und Teschen kennen sich aus ihrer gemeinsamen Zeit in Bremen, als Keller von 1996 bis 1999 Protokollchef der Senatskanzlei der Freien Hansestadt war.‹
Yves wird schwindlig. Nach so langer Zeit … Gut sieht er aus, der Teschen. Der hat seinen Weg gemacht. Ob der wohl verheiratet ist, Kinder hat?
Plötzlich muss er sich vor Schmerzen krümmen. Er sollte doch allmählich auf etwas Stärkeres umsteigen, der billige Weißwein benebelt nur noch ungenügend. Doch guter Whiskey und starke Schmerzmittel sind teuer. Wäre Teschen in seiner Lage, für den wäre gesorgt. Der Staat würde ihm einen angenehmen Lebensabend spendieren, und er hätte genug Geld, um sich in den besten Krankenhäusern behandeln zu lassen.
Der Funken einer Idee glimmt in seinem Kopf auf. Warum sollte nicht auch jemand für Yves Renard sorgen? Oder besser noch, für seine Tochter? Aus dem Funken wird eine Flamme. Yves rafft sich aus seinem Schaukelstuhl auf, die Schmerzen sind für den Augenblick vergessen. Er hat einen außergewöhnlichen Plan gefasst.
»Joseph«, ruft er, »bring mir mal das Telefonbuch raus!«
16. Juni 2010, zwischen Abidjan und Paris in 12.000 Metern Höhe
Yves Renard hat sich eben einen kleinen Cognac an Bord der A320 gegönnt. Zuletzt ist er diese Strecke vor mehr als 35 Jahren geflogen. Was für einen Luxus diese Flugzeuge heutzutage bieten! Dieser Airbus ist mit der alten Boeing 707 überhaupt nicht zu vergleichen.
Ab und zu ist Yves in Abidjan auf dem Flugplatz ›Felix Houphouet Boigny‹ gewesen und hat die startenden und landenden Flugzeuge beobachtet. Nicht, dass er Heimweh gehabt hätte.
Den Flugpreis von knapp 1.000 Euro hätte er sich unter normalen Umständen gar nicht leisten können. Aber was sind schon normale Umstände. Sein ganzes Leben als normal zu bezeichnen, wäre der reinste Witz.
Yves lehnt sich in seinem Sitz zurück. Neben ihm schnarcht eine dicke Französin, die ihm schon vor dem Start erklärt hat, unter welch unsäglicher Flugangst sie leide, aber dass sie doch ihren neugeborenen Enkel besuchen wolle, denn ihr Schwiegersohn sei als Chirurg in der Polyclinique Internationale Sainte Anne-Marie in Abidjan tätig. Daher hätte sie den weiten Weg von Frankreich angetreten. Ach Gott, ach Gott, wenn nur ihre Tochter und der Enkel in Paris wären, so ganz traute sie der Ruhe im Moment ja nicht. Ihr Schwiegersohn müsse natürlich in Abidjan bleiben, er sei doch so ein begnadeter Arzt, richtig goldene Hände hätte er, und der Kleine sei ja so entzückend. Wenn doch nur nicht dieser Dauerregen gewesen wäre, da würde sie ganz asthmatisch, hat sie ihn angekeucht. Irgendwann ist ihm der Kragen geplatzt.
»Dann halten Sie mal die Luft an, bevor Sie mir hier noch ersticken.« Beleidigt hat sie ihn aus ihren Glubschaugen angeschaut, tief geseufzt, um dann augenblicklich in einen komatösen Schlaf zu fallen.
Yves hängt nun seinen eigenen Gedanken nach. Es hat lange
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