Rotglut - Kriminalroman
her. »Komm, setz dich mit raus, es ist herrlich.« Er beugte sich über die Theke und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Sie schüttelte den Kopf. »Nee, lass mal. Ich will was mit Mama besprechen und …«
»Dabei störe ich. Schon kapiert. Bin gleich wieder unsichtbar.« Bertram zwinkerte seiner Stieftochter zu, flitzte, soweit es seine Leibesfülle erlaubte, zum Kühlschrank und verschwand mit der beschlagenen Flasche wieder nach draußen.
Hannelore Uhlenbruck fasste ihre Tochter am Arm. »So, und jetzt raus mit der Sprache. Was ist los, was ist so dramatisch, dass Bertram es nicht hören soll? Und was meintest du vorhin mit dem Toten?«
Saskia öffnete ebenfalls den Kühlschrank und nahm ein Mineralwasser aus der Flaschenhalterung. Wie sollte sie nur anfangen? Im Auto hatte sie genau gewusst, was sie ihrer Mutter sagen wollte. Voller Zorn, voller Enttäuschung und tief verletzt, waren ihr die Sätze nur so im Kopf herumgegangen. Und jetzt? Jetzt wusste sie überhaupt nichts mehr. Komisch, ihren Patienten empfahl sie immer ›nur raus mit der Sprache‹. Es war fast zum Lachen.
»Saskia?« Ihre Mutter hielt ihr ein Glas hin. Schließlich schraubte sie den Verschluss auf und schenkte sich ein. Saskia Uhlenbruck trank einen Schluck, atmete tief durch und fasste sich ein Herz.
»Ich habe Vater getroffen.«
Hannelore Uhlenbruck verstand gar nichts. »Ja, und? Ich versteh nicht, was du mir sagen willst.«
Saskia schnaubte durch die Nase und wunderte sich erneut darüber, dass sie so gelassen blieb. »Ich meine nicht Bertram.«
Selten hatte sie so viele Gefühle sich auf dem Gesicht eines Menschen in so kurzer Abfolge widerspiegeln sehen wie jetzt bei ihrer Mutter: Verstehen, Angst, Wut, Ablehnung.
»Das kann nicht sein. Was redest du da? Dein Vater ist tot, und das weißt du.« Hannelores Gesichtszüge hatten sich verhärtet. Saskia fühlte sich in ihrem Verdacht bestätigt. Ihre Mutter hatte sie all die Jahre angelogen und log immer noch. Sie stieß sich von der Esstheke ab und lehnte sich mit dem Rücken an die Küchenzeile.
»Das ist kein Quatsch. Ich habe ihn gesehen. Er war bei mir in der Praxis. Weißt du, wie sich das anfühlt? Nach fast 36 Jahren kommt mein tot geglaubter Erzeuger und zieht ein altes Foto heraus, auf dem zu sehen ist, wie er mich an der Hand hält. Lüg mich jetzt nicht weiter an! Ich will wissen, warum? Warum hast du das getan?« Mit jedem Satz war sie lauter geworden, der ganze Schmerz, die ganze Enttäuschung über diesen Verrat ihrer Mutter brachen nun aus ihr heraus. Sie machte zwei Schritte nach vorne, fasste ihre Mutter an beiden Armen, schüttelte sie und schrie: »Warum, Mama? Warum?« Sie stieß ihre Mutter von sich, brach schluchzend zusammen, rutschte an der Küchenzeile nach unten und blieb auf dem Fußboden sitzen.
Hannelore Uhlenbruck half ihr auf, führte ihre hemmungslos weinende Tochter zu einem der Esszimmerstühle und drückte sie sanft auf einen Stuhl.
»Was ist denn bei euch los? Man hört Saskia bis nach draußen«, fragte Bertram Uhlenbruck, der wieder hereingekommen war, beunruhigt. Geschockt blickte er auf seine Stieftochter, die wie ein Häufchen Elend zusammengesunken am Tisch saß und sich nicht beruhigen konnte.
»Jetzt nicht, Bertram«, sagte Hannelore leise. »Lass uns bitte allein.« Uhlenbruck zuckte hilflos mit den Schultern und zog sich wieder auf die Terrasse zurück.
Hannelore stand schweigend neben ihrer Tochter, strich ihr nur immer wieder liebevoll über die Haare. Nach ein paar Minuten schien Saskia sich wieder gefangen zu haben, ihre Tränen waren versiegt und sie saß mit dem Taschentuch, das ihre Mutter ihr gegeben hatte, in der geballten Faust wie erstarrt am Tisch. Hannelore stellte zwei kleine Gläser hin und schenkte sich und ihrer Tochter einen Grappa ein. Den brauchten sie jetzt wohl beide. ›Mein Gott, Raimund, du Idiot. Wieso bist du nur wieder aufgetaucht?‹, dachte sie. Sie leerte ihr Glas in einem Zug. Saskia trank nichts. Abwartend betrachtete sie ihre Mutter.
»Es tut mir leid. Ich dachte, es wäre besser so. Für dich. Für uns …«, begann Hannelore ihren Erklärungsversuch.
»Besser? Was soll daran besser sein? Besser als was? Besser, ich glaube, mein Vater sei tot, als dass eure Ehe gescheitert sei?« Nun trank sie doch einen kleinen Schluck Grappa, der wie Feuer ihre Kehle hinabrann.
»Du verstehst das nicht«, hob Hannelore wieder an.
»Dann erklär’s mir, verdammt noch mal!«, unterbrach Saskia sie
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