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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
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der Polio unter den Jungen auf dem Sportplatz sei vielleicht auf ihn zurückzuführen. Mit einemmal hörte er einen gellenden Schrei. Es war der Schrei der Frau, die unter der Familie Michaels wohnte und schreckliche Angst hatte, auch ihre Kinder könnten Kinderlähmung bekommen und sterben. Er hörte diesen Schrei nicht einfach - er war der Schrei.
     
    An jenem Abend fuhren sie wieder mit dem Kanu zur Insel. Marcia wusste noch nichts von Donald Kaplows Erkrankung. Mr. Blomback wollte das ganze Camp beim Frühstück am nächsten Morgen davon unterrichten, zusammen mit Dr. Huntley, dem Arzt des Camps, der seine Praxis in Stroudsburg hatte, das Camp regelmäßig aufsuchte und zusammen mit den beiden Krankenschwestern selten etwas Ernsteres als Ringwurmbefall, Impetigo, Augenentzündungen, Giftsumachausschlag oder schlimmstenfalls einen Knochenbruch zu behandeln hatte. Mr. Blomback rechnete damit, dass einige Eltern ihre Kinder aus dem Camp holen würden, hoffte aber, mit Dr. Huntleys Unterstützung Angst und Panik auf ein Minimum begrenzen und den Betrieb bis zum Ende der Sommerferien aufrechterhalten zu können. Das hatte er Bucky anvertraut, als er vom Krankenhaus zurückgekehrt war, und ihn noch einmal daran erinnert, er solle niemandem etwas sagen. Er hatte berichtet, Donalds Zustand habe sich weiter verschlechtert - er habe inzwischen auch starke Muskel- und Gelenkschmerzen und werde wahrscheinlich eine eiserne Lunge brauchen.
    Seine Eltern seien gekommen, aber er befinde sich auf der Isolierstation, und wegen der Ansteckungsgefahr hätten sie ihn noch nicht besuchen können. Man habe ihm nur gesagt, dass seine Eltern da seien. Die Ärzte seien überrascht über die Geschwindigkeit, mit der sich nach den anfänglichen Grippesymptomen die lebensgefährlichste Form dieser Krankheit entwickelt habe.
    Das alles erzählte Bucky Marcia, als sie auf der Insel waren.
    Sie schnappte nach Luft. Sie saß auf der Decke und schlug die Hände vor das Gesicht. Bucky ging auf der Lichtung auf und ab und fand noch nicht die Kraft, ihr auch den Rest zu sagen. Die Nachricht von Donalds Erkrankung war schwer genug für sie - er wollte sie nicht im nächsten Atemzug mit seinen eigenen Sorgen belasten.
    »Ich muss mit meinem Vater sprechen«, sagte sie mit Nachdruck. »Ich muss ihn anrufen.«
    »Warte doch, bis Mr. Blomback es bekanntgegeben hat.«
    »Er hätte es längst bekanntgeben sollen«, sagte sie. »Bei so etwas darf man keine Zeit verlieren.«
    »Du meinst, er sollte das Camp schließen?«
    »Das will ich meinen Vater fragen. Ach, Bucky, das ist alles so schrecklich. Was ist mit den anderen Jungen in deiner Hütte?«
    »Bis jetzt geht es allen gut.«
    »Und was ist mit dir?«, fragte sie.
    »Mir geht's prima«, sagte er. »Vor kurzem noch habe ich mit Donald Turmspringen geübt. Ich habe ihm Tipps gegeben. Er war bei bester Gesundheit. Ich hätte mir keinen robusteren Jungen vorstellen können.«
    »Wann war das?«
    »Vor etwa einer Woche. Nach dem Abendessen. Es war wahrscheinlich ein Fehler, ein schlimmer Fehler. Es war wohl schon zu kühl.«
    »Ach, Bucky, es war nicht dein Fehler. Das Ganze ist so beängstigend. Ich habe Angst um dich. Ich habe Angst um meine Schwestern. Ich habe Angst um die anderen Kinder im Camp. Ich habe Angst um mich. Es ist ja nicht bloß irgendein Fall. Es ist ein Fall in einem Ferienlager voller Kinder. Das ist wie ein brennendes Streichholz in einem ausgetrockneten Wald. Hier ist ein Fall hundertmal gefährlicher als in der Stadt.«
    Sie blieb sitzen, während er weiterhin auf und ab ging. Er hatte Angst, ihr zu nahe zu kommen, denn er hatte Angst, sie anzustecken - wenn er sie nicht bereits angesteckt hatte. Wenn er nicht schon alle angesteckt hatte! Die kleineren Jungen am See! Die Helfer am Badeplatz! Die Zwillinge, die er jeden Abend am Eingang zum Speisepavillon mit einem Kuss begrüßte! Als er in seiner Erregung die Brille absetzte, um sich die Augen zu reiben, sahen die Birken ringsum im Mondlicht aus wie zahllose entstellte Gestalten. Mit einemmal wurde ihre Liebesinsel von den Geistern der Polio-Opfer heimgesucht.
    »Wir müssen zurück«, sagte Marcia. »Ich muss meinen Vater anrufen.«
    »Ich habe Mr. Blomback versprochen, dass ich es niemandem sagen würde.«
    »Das ist mir egal. Ich muss mit meinem Vater sprechen. Schon aus Verantwortung für meine Schwestern. Ich muss ihm sagen, was passiert ist, und ihn fragen, was ich tun soll. Ich habe Angst, Bucky, große Angst. Ich dachte, die

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