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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
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Polio würde nie bemerken, dass Kinder in diesem Wald sind - ich dachte, sie würde sie hier nicht finden. Ich dachte, wenn sie einfach im Lager bleiben und nirgendwo anders hingehen, passiert ihnen nichts. Wie konnte die Krankheit sie hier finden?«
    Er konnte es ihr nicht sagen. Sie war zu entsetzt. Und er war zu verwirrt von der Größe dessen, was geschah. Der Größe dessen, was bereits geschehen war. Der Größe dessen, was er getan hatte.
    Marcia erhob sich und faltete die Decke zusammen, und dann schoben sie das Kanu ins Wasser und fuhren zurück zum Camp. Es war kurz vor zehn, und die Betreuer waren in den Hütten und sorgten dafür, dass die Kinder zu Bett gingen. In Mr. Blombacks Büro brannte Licht, doch der Rest des Camps wirkte verlassen. An der Telefonzelle stand keine Schlange. Morgen würde es eine geben, wenn alle wussten, was mit Donald Kaplow geschehen war und welche beängstigende Wendung das Leben im Camp genommen hatte.
    Marcia schloss die Tür der Telefonzelle, so dass jemand, der zufällig in der Nähe war, nichts würde hören können, und Bucky stellte sich neben die Zelle, behielt Marcia im Auge und versuchte, aus ihren Reaktionen abzulesen, was Dr. Steinberg sagte. Ihre Stimme war gedämpft, und so hörte Bucky nur das Sirren der nächtlichen Insekten, das ihn an jenen so kurz zurückliegenden Abend in Newark erinnerte, als er mit Dr. Steinberg auf der hinteren Veranda seines Hauses gesessen und den köstlichen Pfirsich gegessen hatte.
    Marcias Besorgnis schien abzunehmen, als sie die Stimme ihres Vaters hörte, und nach einigen Minuten ließ sie sich auf den kleinen Hocker in der Zelle sinken. Bucky hatte eigentlich am Mittag dieses Tages mit Carl nach Stroudsburg fahren und den Verlobungsring kaufen wollen, doch die Verlobung war jetzt vergessen. Marcia konnte an nichts anderes als die Polio denken, so wie es ihm den ganzen Sommer über gegangen war. Polio. Es gab kein Entkommen - nicht weil sie ihm von Newark in die Poconos gefolgt war, sondern weil er sie mitgebracht hatte. Wie hatte die Krankheit sie hier nur finden können, hatte Marcia gefragt. Indem sie einen Neuankömmling geschickt hatte, Marcias Freund! Er dachte an all die Jungen, die Kinderlähmung bekommen hatten, als er auf dem Sportplatz der Chancellor Avenue School gewesen war, er dachte daran, dass man Kenny Blumenfeld hatte festhalten müssen, damit er sich nicht auf Horace stürzte, und dann dachte er, dass Kenny nicht auf diesen harmlosen Idioten hätte losgehen sollen, um ihn umzubringen, sondern auf ihn, den verantwortlichen Erwachsenen.
    Marcia öffnete die Tür und trat aus der Telefonzelle. Offenbar hatte das, was ihr Vater gesagt hatte, sie beruhigt. Sie umarmte Bucky und begann leise zu weinen. »Ich hatte solche Angst um meine Schwestern. Ich weiß, dass dir nichts passieren wird, denn du bist stark und gesund, aber ich habe mir solche Sorgen um die beiden Mädchen gemacht.«
    »Was hat dein Vater gesagt?«, fragte er und hielt den Kopf so, dass er ihr nicht ins Gesicht atmete.
    »Er hat gesagt, dass er Bill Blomback anrufen wird, dass es aber so aussieht, als würde der alles tun, was man tun kann. Er hat gesagt, wegen eines Poliofalls evakuiert man nicht zweihundertfünfzig Kinder. Die Kinder sollen einfach weitermachen wie bisher. Er sagt, dass viele Eltern wahrscheinlich ihre Kinder abholen werden, dass ich aber keinen Grund zur Panik habe und die Mädchen nicht beunruhigen soll. Er hat nach dir gefragt. Ich habe ihm gesagt, du bist ein Fels in der Brandung. Ach, Bucky, jetzt geht's mir besser. Er und meine Mutter wollen am Wochenende herkommen, anstatt an den Strand zu fahren. Sie wollen die Mädchen selbst beruhigen.«
    »Gut«, sagte er, und obwohl er sie fest im Arm hielt, achtete er darauf, sie beim Abschied auf das Haar und nicht auf den Mund zu küssen - als würde das jetzt noch irgendeinen Unterschied machen.
     
    Am nächsten Morgen schwang Mr. Blomback nach dem Frühstück die Kuhglocke, deren Läuten wichtige Bekanntmachungen ankündigte. Die Kinder verstummten, und er erhob sich. »Guten Morgen, Jungen und Mädchen. Heute morgen habe ich eine ernste Nachricht für euch«, sagte er ganz ruhig und ohne großen Nachdruck. »Sie betrifft den Gesundheitszustand eines unserer Betreuer, Donald Kaplow von der Comanche-Hütte. Donald ist vorgestern Nacht krank geworden und hatte gestern Morgen hohes Fieber. Mr. Cantor hat mich sofort benachrichtigt, und wir beschlossen, ihn nach Stroudsburg ins

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