Rotkäppchen und der böse Wolf
– erwünscht für die Dame und etwas unbehaglich für ihn.
»Mrs Perenna?«, fragte Tuppence.
»Ja. M. nicht N. Es passt alles gut auf sie.«
Wieder nickte Tuppence nachdenklich.
»Sie ist Irin – das hat Mrs O’Rourke schon herausgeschnüffelt. Sie leugnet es aber ab. Ist viel auf dem Kontinent herumgereist. Hat ihren Namen geändert, ist dann hierher gekommen und hat die Pension eröffnet. Eine ausgezeichnete Tarnung, sieht alles ganz unschuldig aus. Ihr Mann wurde von England als Verräter erschossen – sie hätte also einen Grund, sich zur Fünften Kolonne zu schlagen. Ja, das klingt alles sehr wahrscheinlich. Ob das Mädchen auch dabei ist? Was meinst du?«
»Ganz bestimmt nicht«, gab Tommy nachdrücklich zurück. »Sonst hätte sie mir doch nicht alles erzählt. Ich kam mir recht gemein vor.«
Tuppence verstand seine Skrupel nur zu gut. »Mir geht’s genauso. In gewisser Weise ist es eine faule Sache.«
»Aber verflucht notwendig.«
»Ich finde es gar nicht so schlimm, dass ich manchmal lügen muss. Ehrlich gesagt, hin und wieder macht es mir sogar Spaß. Viel schlimmer ist es, wenn man das Lügen und ›den Dienst‹ vergisst – wenn man frei und aufrichtig spricht und dadurch ohne Absicht plötzlich die andern zum Reden und zur Offenheit bringt.« Sie schwieg. Dann fuhr sie fort: »Das ist dir gestern Abend mit dem Mädchen passiert. Sie hat deinem wahren Ich geantwortet – und natürlich fühlst du dich jetzt gemein. Mir erging es ebenso – mit dem jungen Deutschen.«
»Was denkst du von ihm?«, fragte Tommy.
»Meiner Meinung nach«, erwiderte Tuppence schnell, »hat er nicht das Geringste mit der Sache zu tun.«
»Mr Grant ist anderer Ansicht.«
»Immer dein Mr Grant!«
»Zur Sache«, mahnte Tommy. »Über Mrs Perenna sind wir uns also einig?«
»Zum Mindesten sind die Verdachtsgründe nicht von der Hand zu weisen. Hast du sonst niemanden in Betracht gezogen?«
Tuppence überlegte.
»Nein, eigentlich nicht. Natürlich habe ich alle beobachtet und sämtliche Möglichkeiten durchdacht. Aber ein paar von den Leuten sind von vornherein auszuschalten.«
»Zum Beispiel?«
»Nun, Miss Minton, diese brave alte Jungfer, und Mrs Sprot mit ihrer Kleinen und die stockdumme Cayley.«
»Dummheit kann man auch mimen.«
»Ja, das andere ebenfalls. Aber ›brave alte Jungfer‹ und ›besorgte junge Mutter‹ sind Rollen, bei denen man leicht zu dick aufträgt. Und die beiden hier sind ganz natürlich. Außerdem – ist da noch das Kind.«
»Selbst eine Spionin könnte Kinder kriegen, meinst du nicht?«
»Aber sie hätte es nicht bei sich, wenn sie mitten in der Arbeit steckte. Das ist ganz sicher, Tommy. Ein Kind mitbringen, wenn es gefährlich ist – nein, ausgeschlossen.«
»Einverstanden«, gab Tommy zu. »Du magst Recht haben mit Mrs Sprot und Miss Minton, aber in Bezug auf Mrs Cayley bin ich noch nicht überzeugt.«
»Also lassen wir diese Möglichkeit weiter offen. Sie übertreibt ja tatsächlich ein bisschen. So idiotisch, wie sie tut, kann man doch kaum sein.«
»Allzu große Gattentreue untergräbt die Vernunft«, murmelte Tommy.
»Wo hast du denn diese Erfahrung gemacht?«, verlangte Tuppence zu wissen.
»Nicht bei dir, Tuppence. So übermäßig besorgt und hingebend warst du nun wieder nicht.«
»Hatte ich zum Glück auch nicht nötig«, meinte Tuppence freundlich. »Für einen Mann machst du erstaunlich wenig Umstände, wenn du krank bist.«
Tommy kehrte zum ursprünglichen Thema zurück.
»Cayley?«, meinte er nachdenklich. »Ob mit Cayley etwas faul ist?«
»Völlig ausgeschlossen ist es nicht. Und Mrs O’Rourke?«
»Ich bin mir über sie noch nicht ganz im Klaren. Alltäglich ist sie jedenfalls nicht. Ziemlich ausgefallene Person. Aber es ist wohl ihre natürliche Art.«
Tuppence sagte langsam: »Übrigens hat sie ein scharfes und wachsames Auge.« Sie dachte an die Bemerkung über ihre Strickkünste.
»Und Bletchley?«, fragte Tommy.
»Mit dem habe ich ja kaum gesprochen. Der gehört in dein Ressort.«
»Ja, mir scheint, er ist der typische, brave alte Soldat. Wie gesagt, so scheint es.«
»Eine dumme Geschichte.« Tuppence war der Zweifel in Tommys Stimme nicht entgangen. Sie war sehr nachdenklich. »Da haben wir es mit lauter gewöhnlichen, ganz alltäglichen Leuten zu tun und wollen sie durchaus mit einem Verdacht in Zusammenhang bringen.«
»Ich habe Bletchley schon ein bisschen auf den Zahn gefühlt.«
»In welcher Weise? Ich wollte es dir gerade
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