Rotkäppchen und der böse Wolf
kann bei der ewig lastenden Angst und Unruhe.«
»Nun, härmen Sie sich nicht gar zu sehr«, riet Mrs O’Rourke tröstend. »Ihre prächtigen Jungen werden schon gesund und vergnügt zurückkommen. Das ist einmal ganz sicher. Einer von ihnen ist doch bei der R.A.F. nicht wahr?«
»Ja, Raymond.«
»Und wo steckt er denn jetzt, in Frankreich oder in England?«
»Nach dem, was er im letzten Brief geschrieben hat, ist er in Ägypten. Das heißt, richtig geschrieben hat er es natürlich nicht. Aber wir haben unsere Geheimsprache – bestimmte Sätze haben eine bestimmte Bedeutung. Dabei ist ja schließlich nichts Schlimmes, nicht?«
»Gar nichts Schlimmes«, erwiderte Mrs O’Rourke schnell, »das ist ganz natürlich zwischen Mutter und Sohn.«
»Sehen Sie, ich muss einfach wissen, wo er ist«, sagte Tuppence.
Der riesige Buddha nickte.
»Wie gut kann ich das begreifen. Wenn ich einen Sohn dabei hätte, würde ich die Zensur auf jede Weise überlisten. Und Ihr anderer Sohn, der bei der Marine?«
Tuppence ließ willig die Platte über Sohn Douglas ablaufen.
»Ich bin ja so schrecklich verlassen ohne meine Buben!«, schloss sie. »Noch nie waren alle drei zur gleichen Zeit fort. Und Sie können sich nicht denken, wie lieb sie mit mir sind. Als ob ich eine Freundin wäre, nicht ihre alte Mutter. Manchmal« – sie lachte selbstbewusst – »muss ich richtig mit ihnen schimpfen, sonst würden sie überhaupt nie ohne mich ausgehen.«
Da mime ich ja eine höchst widerliche Person, dachte Tuppence im Stillen.
»Und nun wusste ich wirklich nicht mehr, was ich so allein anfangen sollte«, fuhr sie laut fort. »Das Haus war so öde ohne die Jungen und mein Mietkontrakt in London war abgelaufen; wozu sollte ich ihn eigentlich erneuern? Und da dachte ich, ein ruhiger Ort mit guter Zugverbindung…« Sie brach ab.
Wieder nickte der Buddha.
»Ich bin ganz Ihrer Meinung. London ist heute gar zu trübselig. Ich habe selbst viele Jahre dort gelebt. Ich bin nämlich Antiquitätenhändlerin, müssen Sie wissen. Kennen Sie vielleicht mein Geschäft an der Cornaby Street in Chelsea? Über der Tür steht ›Kate Kelly‹, der alte Firmenname. Ich hatte wunderbare Sachen, hauptsächlich schönes Glas, Lampen und Punschbowlen und sonst noch allerhand. Auch Kleinmöbel, aber nur ein paar ausgewählte Stücke, hauptsächlich Nussbaum und Eiche. Und so eine gute Kundschaft! Aber seit dem Krieg kann man ja keine Geschäfte mehr machen. Da war ich froh, als ich den ganzen Krempel mit geringem Verlust losschlagen konnte. – Ich mag nicht immer klagen«, fuhr Mrs O’Rourke fort, »von der Sorte haben wir ja schon genug hier. Mr Cayley zum Beispiel mit seinen Halstüchern und seinem Gejammer über die schlechte Geschäftslage. Natürlich ist sie schlecht – wir sind ja schließlich im Krieg. Und die Frau, die zu dumm ist, den Mund aufzutun. Und die kleine Mrs Sprot jammert dauernd um ihren Mann.«
»Ist er an der Front?«
»Aber nein! Ein kleines Schreiberlein in irgendeinem Versicherungsbüro. Hat schauderhafte Angst vor Luftangriffen; deshalb hat er seine Frau mit der Kleinen sofort bei Kriegsausbruch hierher geschickt. Für das Kind ist das natürlich ganz richtig – so ein süßes kleines Geschöpf –, aber Mrs Sprot macht ein schreckliches Getue, und dabei kommt doch der Mann zu ihr, sooft er nur kann. Der gute Arthur muss ohne sie furchtbar einsam sein, meint sie – glaub ich nicht einmal. Vermutlich hält er sich anderweitig schadlos.«
»Alle Mütter tun mir leid«, murmelte Tuppence. »Die Kinder allein wegschicken – das ist auch nicht das richtige, da lebt man fortwährend in Angst. Und wenn man mit ihnen geht, kommt wieder der Mann zu kurz.«
»Ja gewiss, und dann kostet der doppelte Haushalt auch viel Geld.«
»Aber hier sind die Preise eigentlich ganz vernünftig.«
»Ja, das muss ich zugeben. Mrs Perenna versteht sich aufs Wirtschaften. Aber sie ist eine merkwürdige Person.«
»Inwiefern?«, fragte Tuppence.
Mrs O’Rourke kniff mit bedeutsamem Lächeln ein Auge zu. »Sie werden mich für eine richtige Klatschbase halten. Aber mich interessieren meine Mitmenschen – wahrhaftig, ich nehme Anteil an jedem –, darum sitze ich auch so oft in diesem Stuhl und beobachte von hier aus, wer ein und aus geht, wer auf der Veranda ist, wer im Garten sitzt. Wovon sprachen wir doch gerade? Ja richtig, von Mrs Perenna. Ich finde sie sonderbar. Ich glaube bestimmt, dass es ein großes Drama im Leben dieser Frau gibt. Oder
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