Rotkäppchen und der böse Wolf
ich müsste mich sehr irren.«
»Oh, glauben Sie das wirklich?«
»Es wird mir immer klarer. Achten Sie nur einmal auf ihre Geheimnistuerei! Ich fragte sie kürzlich, wo in Irland sie geboren sei. Was glauben Sie, sie hatte doch die Unverfrorenheit, zu bestreiten, dass sie Irin ist!«
»Sie halten sie für eine Irin?«
»Und ob! Ich werde doch meine eigenen Landsleute kennen. Aber nein, sie sagte seelenruhig: ›Ich bin Engländerin, und mein Mann war Spanier.‹«
Mrs O’Rourke brach plötzlich ab. Mrs Sprot war eingetreten, und hinter ihr kam Tommy.
Sofort entfaltete Tuppence eine neckische Munterkeit.
»Oh, Mr Meadowes, guten Abend. Wie frisch und vergnügt Sie aussehen!«
»Ich habe mir tüchtig Bewegung gemacht, das ist das ganze Geheimnis«, antwortete Tommy. »Heute Früh eine Golfpartie und nachmittags ein langer Spaziergang am Strand entlang.«
»Auch ich war mit Betty unten am Strand«, sagte Millicent Sprot, »sie wollte gern im Wasser planschen, aber ich hatte Angst, dass es zu kalt ist. Wir haben ein großes Sandschloss gebaut, und später rannte mir ein Hund in mein Strickzeug; die Wolle ist ganz verwirrt, und die Nadeln sind herausgefallen. Zu dumm! Ich bin eine schlechte Strickerin – all die Maschen aufnehmen, das ist eine Menge Arbeit für mich.«
»Sie sind mit Ihrer Kappe ein gutes Stück weitergekommen, Mrs Blenkensop«, bemerkte Mrs O’Rourke und sah Tuppence aufmerksam an. »Wie flink Sie sind! Und Miss Minton hält Sie für eine ungeübte Strickerin!«
Tuppence errötete ein wenig; die Alte hatte scharfe Augen.
»Ja, ich habe ganz tüchtig gearbeitet«, sagte sie ein bisschen ärgerlich. »Ich habe Miss Minton nur nach dem Mund geredet und mich ungeschickter angestellt, als ich bin; sie belehrt andere so gern.«
Alle lachten verständnisvoll. Ein paar Minuten später kamen die letzten Gäste, und der Gong ertönte.
Während des Essens drehte sich die Unterhaltung hauptsächlich um Spionagegeschichten; die ältesten, abgestandensten Schauermärchen wurden vorgebracht – die Nonne mit den kräftigen, muskulösen Armen, der Geistliche, der mit dem Fallschirm landet und beim harten Aufprall sehr ungeistlich flucht, die österreichische Köchin mit dem geheimen Sender im Kamin ihres Schlafzimmers und ähnliche Geschichten, die Onkel und Tanten und Vettern erlebt oder doch fast erlebt hatten. Eine höchst normale Unterhaltung, die man in diesen Zeiten immer und überall hören konnte, aber Tuppence spitzte doch die Ohren und beobachtete die Gesichter und Gebärden der Gäste in der Hoffnung, irgendetwas Aufschlussreiches zu erhaschen. Natürlich vergebens. Sheila Perenna nahm als einzige an der Unterhaltung nicht teil, aber da sie sich fast immer schweigsam verhielt, bot auch ihr Schweigen keinen Anhaltspunkt. Sie saß still da und trug eine grüblerische und abweisende Miene zur Schau.
Carl von Deinim war nicht zum Essen erschienen, so konnte man ungehemmt diskutieren.
Erst gegen Ende der Mahlzeit sprach Sheila. Mrs Sprot hatte gerade mit ihrer piepsigen Stimme gesagt: »Den größten Fehler haben doch die Deutschen im letzten Krieg gemacht, als sie Edith Cavell erschossen. Damit haben sie sich alle Sympathien verscherzt.«
Sheila warf den Kopf zurück. »Warum sollten sie sie denn nicht erschießen?«, fragte sie, und ihre junge, frische Stimme klang herausfordernd. »War sie eine Spionin oder war sie es nicht?«
»Gott behüte, sie war doch keine Spionin!«
»Sie verhalf Engländern zur Flucht – im feindlichen Land. Damit hat sie sich am Krieg beteiligt. Natürlich musste sie erschossen werden.«
»Aber sie war doch eine Frau. Eine Krankenschwester!«
Sheila fuhr hoch. »Die Deutschen waren vollkommen im Recht«, sagte sie. Dann stand sie auf und ging durch die Balkontür in den Garten.
Das Dessert bestand aus einigen unreifen Bananen und saftlosen Orangen und fand wenig Interessenten. So erhoben sich bald alle und begaben sich in den Salon, um dort den Kaffee zu nehmen.
Nur Tommy schlenderte unauffällig in den Garten. Er fand Sheila, an die Balustrade der Terrasse gelehnt, aufs Meer starrend. Langsam ging er auf sie zu und stellte sich neben sie. Er hörte, dass sie schnell und tief atmete, wie in heftiger Erregung. Er bot ihr eine Zigarette an und sagte beiläufig: »Ein schöner Abend.«
»Er könnte schön sein…«, antwortete das Mädchen leise.
Tommy blickte sie prüfend an. Sie war wirklich ungewöhnlich anziehend in ihrer Vitalität, überzeugend und
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