Rotkäppchen und der böse Wolf
sagte Major Bletchley und klopfte ihr freundlich auf den Rücken. »Jetzt haben wir sie.«
Weiter – weiter.
Plötzlich wandte die Frau sich um und sah den Wagen auf sich zukommen.
Mit einem Schrei nahm sie das Kind auf den Arm und begann zu laufen. Aber sie lief nicht vorwärts, sondern seitwärts, zum Rand der Klippe.
Nach ein paar Metern konnte das Auto nicht mehr folgen; der Boden war hier zu uneben, und Felsbrocken lagen umher. Der Wagen blieb stehen, und die Insassen sprangen hinaus, Mrs Sprot als erste. Mit wilden Sätzen rannte sie den beiden Flüchtlingen nach. Die andern folgten ihr.
Noch fünfzehn Meter – da drehte sich die Frau um und stellte sich ihnen. Sie stand jetzt hart am Rand der Klippe. Mit einem heiseren Aufschrei drückte sie das Kind fester an sich.
»Mein Gott«, schrie Haydock, »sie wirft die Kleine über die Klippe hinunter!«
Die Frau stand dort, Betty fest an sich gepresst. Ihr Gesicht war von Hass verzerrt. Sie schrie etwas mit heiserer Stimme, aber niemand verstand sie. Und noch immer hielt sie das Kind und blickte von Zeit zu Zeit in den Abgrund – kaum einen Meter entfernt von ihr.
Alle standen wie versteinert da, festgenagelt vor Entsetzen, unfähig, sich zu bewegen, aus Angst, die Katastrophe auszulösen.
Haydock griff in die Tasche. Er zog seine Armeepistole heraus und schrie: »Lassen Sie das Kind los – oder ich schieße!«
Die fremde Frau lachte; sie drückte Betty noch fester an die Brust. Die beiden Gestalten verschmolzen ineinander.
»Ich darf nicht schießen«, stöhnte Haydock. »Es ist unmöglich, ich könnte das Kind treffen.«
»Die Frau ist wahnsinnig«, stammelte Tommy. »Jetzt wird sie mit dem Kind hinunterspringen.«
Haydock wiederholte hilflos: »Ich darf nicht schießen.«
In diesem Augenblick krachte ein Schuss. Die Frau taumelte und fiel, das Kind noch in den Armen haltend, nach vorn. Die Männer rannten auf sie zu. Mrs Sprot stand schwankend da, die rauchende Pistole in der Hand, die Augen weit aufgerissen.
Mit steifen Füßen machte sie ein paar Schritte vorwärts.
Tommy kniete bei der Gestürzten. Er drehte sie vorsichtig herum. Er blickte der Frau ins Gesicht – eine wilde, eigenartige Schönheit. Die Augen waren noch geöffnet, starrten ihn an – dann verschleierten sie sich – brachen – ein kleiner Seufzer, und die Frau war tot.
Klein-Betty war heil und gesund. Sie krabbelte hoch und rannte auf ihre Mutter zu, die starr und unbeweglich wie eine Statue dastand.
Endlich kam Leben in Mrs Sprot. Sie warf die Waffe fort, fiel auf die Knie und riss das Kind in ihre Arme.
»Gerettet!«, rief sie. »Gerettet! O Betty, Betty!« Und dann, ganz leise, mit furchtsamem Flüstern: »Habe… Habe ich sie getötet?«
»Daran dürfen Sie jetzt nicht denken«, sagte Tuppence energisch.
»Denken Sie an Betty, nur an Betty.«
Mrs Sprot hielt schluchzend das Kind an sich gepresst.
»Ein Wunder«, murmelte Haydock, »weiß Gott, ein Wunder. Ich hätte nicht so schießen können. Dabei hat die Frau sicher vorher noch nie eine Pistole in der Hand gehabt – schierer Instinkt. Ein Wunder, sage ich, ein glattes Wunder.«
»Gott sei Dank«, murmelte Tuppence. »Viel fehlte nicht mehr…«
Sie blickte über den jähen Abgrund ins Meer hinunter und schauderte.
8
D ie gerichtliche Untersuchung fand ein paar Tage später statt. Eine Vertagung war notwendig gewesen, damit die Polizei die Erschossene als eine gewisse Wanda Polonska, polnischer Flüchtling, identifizieren konnte.
Nach der dramatischen Szene auf der Klippe wurden Mrs Sprot und Betty ins Sans Souci zurückgebracht. Die junge Mutter war völlig zusammengebrochen und fast ohnmächtig. In der Pension war sie natürlich die Heldin des Tages; voller Neugier umdrängten sie alle und versorgten sie mit Wärmflaschen, Tee und einem kräftigen Schluck Kognak.
Commander Haydock hatte sich sofort mit der Polizei in Verbindung gesetzt. Unter seiner Führung hatten die Beamten den Schauplatz des tragischen Ereignisses inspiziert.
Das Interesse der Presse konzentrierte sich ganz auf Commander Haydock und Mrs Sprot. Mr Sprot war telegrafisch herbeigerufen worden. Er kam sofort, um Frau und Kind zu sehen, musste jedoch am gleichen Tag wieder abreisen. Er war ein liebenswürdiger, aber recht uninteressanter junger Mensch.
Die gerichtliche Untersuchung wurde in der üblichen Weise mit der Identifikation der Leiche eröffnet. Sie wurde von einer gewissen Mrs Calfont vorgenommen, einer Dame mit
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