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Rotkäppchen und der böse Wolf

Rotkäppchen und der böse Wolf

Titel: Rotkäppchen und der böse Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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dünnen Lippen und bohrenden Augen, die einige Monate in der Flüchtlingshilfe gearbeitet hatte.
    Ihrer Aussage nach war die Polonska mit einem Vetter und dessen Frau, ihren einzigen Verwandten, nach England gekommen. Die Frau war wohl damals schon infolge der in Polen erlebten Gräuel geistig leicht gestört gewesen; ihre Familie, auch mehrere Kinder, waren ermordet worden. Übrigens wusste die Frau niemandem Dank für Hilfe und Unterstützung, sondern hatte ein schweigsames und verdächtiges Wesen gezeigt. Sie sprach immer mit sich selbst und schien überhaupt nicht normal. Man hatte sie in einem Haushalt untergebracht, doch hatte sie ihren Dienst ohne Verständigung der Polizei vor einigen Wochen verlassen.
    Der Coroner fragte, warum die Verwandten der Toten nicht zugegen wären. Hier konnte Inspektor Brassey eine Erklärung abgeben.
    Das Ehepaar war wegen gewisser Machenschaften auf einer Schiffswerft unter Spionageverdacht verhaftet worden. Diese beiden Ausländer waren angeblich als Flüchtlinge ins Land gekommen, hatten aber sofort versucht, in der Nähe einer Marinebasis Arbeit zu finden. Die ganze Familie war verdächtig; in ihrem Besitz hatte sich eine größere Geldsumme befunden, über die sie keine Rechenschaft abgeben konnte. Über Wanda Polonska war nichts Näheres bekanntgeworden – nur wusste man, dass sie offensichtlich antibritisch eingestellt war. Vielleicht war auch sie eine feindliche Agentin und ihre Verwirrtheit nur vorgetäuscht.
    Mrs Sprot brach, sobald sie aufgerufen wurde, in Tränen aus.
    Der Coroner war sehr sanft und freundlich zu ihr und berührte die Ereignisse mit viel Takt.
    »Es ist so entsetzlich«, schluchzte sie, »so furchtbar, zu denken, dass ich einen Menschen getötet habe. Ich wollte es gar nicht… nie habe ich an so etwas gedacht… aber Betty… die Frau hätte sie ja die Klippe hinuntergeworfen… das musste ich doch verhindern… o Gott, o Gott, wie ist das alles nur zugegangen!«
    »Verstehen Sie, mit Schusswaffen umzugehen?«
    »Aber nein! Ich habe nur manchmal so zum Spaß geschossen, auf dem Jahrmarkt, in Schießbuden, und da habe ich nie etwas getroffen. O Gott, mir ist zu Mute, als ob ich einen Mord begangen hätte!«
    Der Coroner beruhigte sie und fragte, ob sie schon früher mit der toten Frau zu tun gehabt hätte.
    »Nein, niemals. Nie zuvor habe ich sie gesehen. Sie muss völlig irrsinnig gewesen sein – sie kannte doch weder mich noch Betty.«
    Im Verlauf des weiteren Verhörs sagte Mrs Sprot aus, sie hätte einmal einem Nähzirkel zu Gunsten polnischer Flüchtlinge angehört, sonst aber nie etwas mit Polen zu tun gehabt. Der nächste Zeuge war Haydock. Er erzählte genau, wie er der Kindsräuberin gefolgt war, und beschrieb die Gefahr, in der das Kind geschwebt hatte.
    »Sie können mit Bestimmtheit aussagen, dass die Frau im Begriff war, mit dem Kind über die Klippe hinunterzuspringen?«
    »Entweder wollte sie das, oder sie beabsichtigte, das Kind ins Meer zu werfen. Sie schien wie von Sinnen vor Hass. Es war ganz unmöglich, vernünftig mit ihr zu reden. Man konnte nur handeln. Ich selbst dachte daran zu schießen; ich wollte sie allenfalls nur verletzen, aber sie hielt das Kind wie einen Schild vor sich. Ich schoss nicht – aus Angst, das Kind zu treffen. Mrs Sprot aber wagte es und rettete so glücklicherweise das Leben des kleinen Mädchens.«
    Mrs Sprot brach wieder in Tränen aus.
    Die Verhandlung war dann bald zu Ende. Der Coroner stellte fest, dass Wanda Polonska durch die Hand der Mrs Sprot getötet worden war, die allerdings in Notwehr gehandelt hatte. Mrs Sprot traf keinerlei Schuld.
    Die Polonska hatte in ihrem Vaterland unsäglich Grauenhaftes durchgemacht, wodurch vermutlich ihr Geist getrübt worden war.
    Das Verdikt bestätigte diese Ausführungen.
     
    Am folgenden Tage trafen sich Mrs Blenkensop und Mr Meadowes, um ihre Eindrücke auszutauschen.
    »Exit Wanda Polonska, und wir wissen soviel wie zuvor«, bemerkte Tommy trübselig.
    Seine Gefährtin nickte.
    »Vielleicht noch weniger, was? Keine Papiere, nicht die leiseste Andeutung, woher das Geld für sie und ihren Vetter stammte, keine Möglichkeit mehr, zu erfahren, mit wem sie zusammenkam.«
    »Verfluchte Geschichte«, sagte Tommy und fügte bedrückt hinzu: »Tuppence, die letzten Nachrichten gefallen mir gar nicht.«
    Tuppence gab ihm Recht. Tatsächlich waren die letzten Nachrichten vom Kriegsschauplatz alles andere als ermutigend.
    Das französische Heer war auf dem Rückzug,

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